Regionale 22

THE TRUTH IS ELSEWHERE

Hamza Badran, Jürgen Buchinger, Lynne Kouassi, Maeline Li, Marian Mayland mit Ole-Kristian Heyer & Patrick Lohse, Emeka Udemba, Sophie Yerly

Dokumentarisches Material öffnet das Feld für zentrale Fragen nach Konstitutionen
und Konstruktionen von Wirklichkeit(en) und Wahrheit(en) und deren historischen
Entwicklungen und Veränderungen. Das Kunsthaus L6 zeigt Positionen, die, ausgehend
von konkretem Material, dem Dokument bzw. dessen Inszenierung gesellschaftliche
Realitäten erkunden.

Alle Fotos © Marc Doradzillo

Jürgen Buchinger, Was tun?
In seinem Video „Was tun?“ inszeniert der Künstler ein Experten-Interview. Hier werden wichtige
aktuelle Themen faktenreich verhandelt: von Klimawandel über die Zuspitzung von arm und reich
bis hin zum Scheitern politischer demokratischer Strukturen. In einem kontinuierlichen Fluss,
wechselnd zwischen Halbtotale und Close-up, analysiert der Künstler Gesellschaft. Das Setting ist
so reduziert wie präzise inszeniert: Er sitzt auf einem Leder-Teak-Sofa, das an dänisches Design der
60er erinnert, neben ihm eine Vase mit einer hoch aufragenden weißen Lilie, Symbol der Reinheit
bzw. Unantastbarkeit. Häufg wird beklagt, dass Intellektuelle sich nicht mehr zu aktuellen
gesellschaftspolitischen Fragen äußern. Hier haben wir ihn! Aber es sind nicht seine bzw. nicht nur
seine Texte. Auf die Eingangsfrage des Interviewers aus dem Off zur Lage der Welt in unserer Zeit
antworten abwechselnd und miteinander verwoben Jean-Luc Nancy, Alain Badiou und Jürgen
Buchinger selbst.

Emeka Udemba, Maverick No. 3., The Chosen Ones No. 1. / 2.
Udembas Leinwände porträtieren Schwarze Menschen. Die Vorlagen sind aus verschiedenen
Medien zusammengetragen oder zum Teil auch selbst fotografert. In einem langen Prozess, in
dem er viele Schichten aus Schnipseln von Zeitungen und Zeitschriften zusammen mit Acrylfarbe
übereinander aufträgt, entstehen fimmernde Porträts, die zwischen Schärfe und Unschärfe zu
oszillieren scheinen. Die „Dokumente“, die Emeka Udemba in seine Bilder einarbeitet, meinen
selten den Inhalt selbst, den sie enthalten. Sie sind nicht als ein spezifsches Dokument zu
verstehen. Vielmehr bilden sie ein Gefecht aus Medien, welche unsere Wahrnehmung fltern bzw.
beeinfussen oder stören. Diese kalkulierten Unfälle, die auf der Ebene von Farben, Wörtern und
Transparenzen auftreten, kippen zwischen Verschwinden und Erkennen und transportieren ein
Gefühl der Dislokation. Die Wahrheit liegt woanders, im Dazwischen von medial konstruierten
Blicken auf die Anderen und den Personen selbst.

Lynne Kouassi, Healing 2018
Die Installation von Lynne Kouassi besteht aus eine Pfanze, einem Stuhl und einem Beistelltisch
mit einem dicken Buch. Unweigerlich wird klar, dass dies ein Arrangement ist, in dem das Warten
angenehm gemacht werden soll. Schaut man sich das Buch an, fndet man unzählige Faksimile-
Abbildungen von Flyern, die alle für alternative Gesundheitsangebote werben. Die Künstlerin hat
diese Flyer in verschiedenen Bio-Läden in London gesammelt und zusammengetragen. Hier fndet
man alles, von „Awareness“ über „Meditation“ und „Nature“ bis hin zu „Yoga“. Die Werbefyer hat
sie farblich sortiert und in einem Index recherchierbar gemacht. Lynne Kouassi führt mit diesem
alternativen Nachschlagewerk von Ephemera eine gesellschaftliche Realität vor Augen, deren
Präsenz selten so pointiert im Alltag zu Geltung kommt. Gesundheit ist etwas, das immer stärker
als wichtiges Gut propagiert wird: Vorsorgeuntersuchungen sollen Krankheiten frühzeitig
erkennen und jedes Individuum ist für seine Leistungsfähigkeit verantwortlich und wird von den
Krankenkassen zu Sport oder Yoga animiert. Das zusammengetragene Buch gibt Aufschluss
darüber, dass das Gefühl, defzitär, krank bzw. optimierbar zu sein, ein Normalzustand geworden
ist. Ein undurchdringliches Angebot von Heilung parallel zum Gesundheitssystem und eine große
Nachfrage nach Heilung scheint die Folge.

Hamza Badran, the center of the world
In seinem Video dokumentiert Hamza Badran eine Katze, die in den historischen Ruinen von
Delphi lebt. In der Antike galt Delphi als der Mittelpunkt der Welt und war mit dem Orakel von
Delphi der bedeutendste Pilgerort in der Antike. Heute ist er ein Touristenmagnet. Diese
Zuschreibungen eines Ortes verbindet der Künstler mit einer Dokumentation der Jetztzeit, indem
er die Ruinen von Delphi als Lebensraum einer Katze zeigt. Entweder jagt oder schläft sie – Delphi
ist auch das Zentrum ihrer Welt. Das Video scheint sich zwischen Geschichts- und
Tierdokumentation anzusiedeln. Ab und zu sieht man die Beine von Touristen oder das Zirpen der
Grillen und Zwitschern der Vögel wird durch Flugzeuglärm übertönt. Es erfolgt keine
Kommentierung. Der Künstler startet mit dieser skurrilen Ineinssetzung von Mythos und aktueller
Realität ein herrliches Spiel an möglichen Dekonstruktionen: griechische Philosophie, Demokratie,
Eurozentrismus aber auch Tourismus oder Natur.

Maeline Li, Ice Maps
In ihrer Installation unternimmt die Künstlerin den Versuch die Situation der größten Insel der
Erde mit Autonomiestatus in ihrer Komplexität darzustellen. Karten Grönlands aus der Kolonialzeit
bestimmen die Fotografen auf Alu Dibond. Im Archiv in Nuuk, der Hauptstadt des Landes,
abfotografert, bilden sie eine Linie, die von einer Projektion extrem heller Fotografen
überblendet wird. Diese dokumentieren sehr individuell den Eindruck der aktuellen Situation des
Landes durch das Kameraauge der Künstlerin. Kaum international wahrgenommen (nur als
Donald Trump den Kauf der Insel ins Auge fasste), leben die Menschen dort in einem
Schwebezustand. Immer noch abhängig von Dänemark, setzt sich die koloniale Geschichte fort.
Dies kann etwa durch die kaum wahrnehmbaren Militärschiffe Dänemarks auf einigen Fotografen
beobachtet werden kann. Nur wenige Wirtschaftsbereiche wie Fischfang führen zu einer hohen
Arbeitslosigkeit und einer stark segregierten Gesellschaft. Die Selbstmordrate ist weltweit mit
Abstand die höchste; ein Friedhof auf einer Fotografe deutet dies an. Eine schwierige
Ausgangslage, um sich als Gesellschaft mit gerade einmal 56000 Einwohnern gänzlich zu befreien
und ein Selbstbewusstsein aufzubauen.

Marian Mayland / Ole-Kristian Heyer / Patrick Lohse, Dunkelfeld
Dunkelfeld bezeichnet die Differenz zwischen den registrierten Straftaten und den vermutlich
begangenen Straftaten. Aktuell wird – auch aufgrund der Untersuchung zum NSU – das Dunkelfeld
Rassismus in den Sicherheitsbehörden diskutiert, das bisher kaum untersucht wurde. Der Film
„Dunkelfeld“ arbeitet den Brand eines Wohnhauses von Gastarbeiter_innen in Duisburg im Jahr
1984 auf, bei dem sieben Menschen ums Leben kamen. Im Jahr davor wurde in Folge der 2.
Ölkrise und der damit einhergehenden hohen Arbeitslosigkeit das Rückkehrhilfegesetz erlassen.
Das Gesetz sollte u.a. Menschen türkischer Herkunft mit einem Geldbetrag zur Rückkehr in ihr
Heimatland bewegen. Dies war bis Juni 1984 möglich. Zwei Monate später ereignete sich der
Brandanschlag in Duisburg. Der Film ist der Versuch einer Rekonstruktion dieser Ereignisse. Die
Erzählung wechselt zwischen türkisch und deutsch, ebenso wie der Film zwischen offziellen
Archivdokumenten, persönlichen Dokumenten und inszenierten Bildern für die Folgen des
Brandanschlages wechselt. Die Kamera fährt durch ein arrangiertes Archiv, über Doku-Material,
hin zu sieben leeren schwarzen Stühlen, die immer wieder auftauchen und den nicht darstellbaren
und von offzieller Seite vergessenen Verlust dokumentieren. „Dunkelfeld“ entwickelt sich so nicht
nur zu einem Denkmal für den Brandanschlag in Duisburg, sondern auch zu einer aktuellen
Analyse anhaltender rassistischer Realitäten in Deutschland.

Sophie Yerly, The Last Picture 1950-2016
I DIED steht in großen Lettern an der Wand und spricht hollywoodmächtig aus dem Reich der Toten
zu uns. Eine wandfüllende Exklamation, deren Bezugspunkte zuerst unklar sind. Erst mit einem
weiteren Teil der Arbeit stellt sich ein Bezug her. Es ist die letzte Fotografe, die eine Person noch
vor ihrem Tod gemacht hat. Gefunden auf deren Mobiltelefon. Was passiert mit diesen
persönlichen Archiven? Was sagt uns dieses letzte, aus Sicht der verstorbenen Person
dokumentierwürdige Situation? Wie wichtig war ihr das Bild überhaupt? Ist es das eigene
Enkelkind? Was ist der Person zugestoßen? Die Verbindung von Text und Bild wirft ausschließlich
Fragen auf, für die es keine defnitiven Antworten gibt. Die Künstlerin macht uns aber mit dieser
Grenzüberschreitung ins Persönliche auf ein meist übersehenes Topos aufmerksam. Ständig gibt
es letzte Bilder, die gerade nicht die gestorbene Person zeigen, sondern eine deren letzten
Handlung: Fotograferen. Fotos, welche die persönliche Umwelt dokumentieren und dann doch
meist verloren gehen.

Alle Fotos © Marc Doradzillo