The Immigration

Michaela Tröscher - the Icelandic pianist

29.01. - 13.03.2022

Foto:Marc Doradzillo

Werk aus dem Exil
Die schöpferische Konsequenz einer Entwurzelung

„Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen. Die Verantwortung, die ich für meine Mitmenschen trage, ist mir nicht auferlegt worden, sondern ich habe sie selbst übernommen. Ich bin nicht, wie der Zurückgebliebene, in geheimnisvoller Verkettung mit meinen Mitmenschen, sondern in frei gewählter Verbindung. Und diese Verbindung ist nicht etwa weniger emotional und sentimental geladen als die Verkettung, sondern ebenso stark, nur eben freier.“
Vilém Flusser 1

Das Thema Immigration ist seit spätestens 2015 mit den Berichten über die Balkan- oder die Mitteleuroparoute innerhalb der Kunst präsent. Diese Kunst befindet sich im Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Politik und wird oft als politische Kunst gesehen, da die Immigration auch ein politisches Thema ist. Aus der Sicht des politischen Immigranten, Philosophen und Kommunikationswissenschaftlers Flusser ist die Migration „zwar eine schöpferische Tätigkeit, aber sie ist auch ein Leiden… Allerdings können sich derartige Gedanken nur die Vertriebenen, die Migranten, nicht aber die Vertreiber und die Zurückgebliebenen erlauben.“ 2

alle Fotos Copyright: Marc Doradzillo

Die Arbeit von Michaela Tröscher hat keinen direkten politischen Hintergrund. Die Immigration bedeutet für sie wie für Flusser Eigenständigkeit und Kreativität. Sie merkt schon sehr früh, dass, ähnlich wie er es beschreibt, ihre herkunftsbedingte Zuschreibung nichts mit ihr zu tun hat. Das Thema der Immigration wird zu ihrer künstlerischen Aufgabe. Der Navigationsplan für deren Erfüllung ist in der Collage Eine gewöhnliche Landkarte zu sehen, in der die Landmarken der ALTEN und der NEUEN WELT sich verbinden. Im Werk der Künstlerin ist die Immigration eine Transformation von einer Fiktion in die Realität.Die Fiktion in ihrem Fall ist ein Roman, den sie bildhauerisch in die Realität transformiert. Es handelt sich dabei um den isländischen Roman Híbýli Vindanna* (Wohnstätte der Winde) und dessen Fortsetzung LífsínsTré** (Der Lebensbaum) von Bö∂var Gu∂mundsson. In beiden Büchern wird die Emigration der Isländer und Isländerinnen aus Europa (ALTE WELT) und ihre Immigration nach Nordamerika (NEUE WELT) beschrieben. Interessanterweise gibt es da eine Parallele zur Geschichte der Familie Tröscher. Der Großonkel der Bildhauerin, Paul Tröscher, wanderte im Jahr 1914 nach New York aus. Diese Besonderheit aus der Familiengeschichte bringt Michaela Tröscher dazu, die Grenzen zwischen der Fiktion und der Realität in ihrer künstlerischen Arbeit zu verwischen. Angelegt an das Buch und ihrer Familiengeschichte überquert die Künstlerin 2013 den Atlantik auf einem Containerschiff von Bremerhaven nach New York und fährt weiter mit dem Zug durch Kanada, von Québec über Winnipeg nach Vancouver. Diese Reise bildet den ersten Werkblock (Supercargo - die Reise in die NEUE WELT. Eine Seecontainer Installation auf einer Kuhweide im Hochschwarzwald nach einer Überquerung des Ozeans, 2014). Darauf folgt der zweite Werkblock (Clausenhut, Kunstverein Pforzheim im Reuchlinhaus e.V., 2015), in dem es um die Verbindung zwischen dem Altem und dem Neuem geht.Die Rauminstallation The Immigration zeigt den dritten Werkblock, der den Beginn des Exils in der neugeschaffenen Realität präsentiert. Mit dem Betreten der Ausstellungsräume, befinden sich die Besucher und Besucherinnen fiktiv in der NEUEN WELT:Am Anfang in New York und am Ende in Kanada.
Einen Großteil der Ausstellung nimmt die Zeichnung ein. Hier liegt der Fokus auf einem humanistischen Prozess, die Landschaftskörper ihrer Kindheit in eine neue Erfahrungsebene zu bringen. Das Medium Zeichnung ist Michaela Tröscher sehr vertraut und bildet die Basis ihres künstlerischen Denkens. Es werden insgesamt drei Zeichnungsgruppen gezeigt. Alle drei belegen den beschrittenen Weg zum Exil. Gleich zu Anfang der Ausstellung werden wir mit zwei davon konfrontiert: The Drawn New York mit 111 Zeichnungen, die die geografische Realität der Stadt New York auf den Weg von ung. 50 km zwischen Lenzkirch und Freiburg überlagern, und New York´s Interior mit 100 Zeichnungen, die das Ineinandergreifen vom Alltagsraum und dem inneren Prozess thematisieren. The Drawn New York beginnt mit dem Blackforest Institut of Art in Lenzkirch als Ellis Island und endet mit dem Kunstverein Freiburg als der Speicher, Pier 21 am Hudson River .Die Zeichnungen der beiden Gruppen verändern sich in ihrer Struktur von der realistischen Darstellung in die offene fließende organische Form wie Wasser oder in eine geometrische Form wie ein Raster oder eine Kristallstruktur.Das einfach handhabbare Medium der Bleistiftzeichnung ermöglicht der Künstlerin die sichtbare Realität mit der inneren Vorstellung und Erinnerung zu verbinden. Durch die Überlagerung der unterschiedlichen Örtlichkeiten schafft Michaela Tröscher ihre NEUE WELT – und es funktioniert, da der Unterschied zwischen Fiktion und Realität in der Zeichnung nicht mehr zu erkennen ist.Eine weitere Zeichnungsgruppe bilden 40 Blätter. In diesem Werk trifft die Immigrationsgeschichte auf die zwölf Verwaltungsbezirke der Stadt Berlin. Die Künstlerin zeichnet Pflanzen in den von ihr ausgewählten historischen und politischen Orten. Sie setzt die Pflanzenzeichnungen und Orte zu ihrem Körper in Beziehung. So findet eine fragmentarische Aneignung des Ortes statt. In diesem Moment wird Berlin zu Winnipeg, der Hauptsiedlung der Isländer im ersehnten Kanada, wie es im Roman beschrieben wird. Der weitere Prozess ist das Abgießen des eigenen Körpers in Beton, Wachs und Gips, um dem immigrierten Körper einen realen Raum zu geben.Der Abschied, die Ankunft, die spektakulären Stadtansichten, die großartigen als auch die intimen und verspielten Momente eines in die Immigrationsgeschichte verfügten Daseins berühren uns bei den an sich selbst adressierten Postkarten. Anders als in den Zeichnungen wird die Grenze zwischen Fiktion und Realität sichtbar. Obwohl das Medium Postkarte uns am besten eine Auswanderung vortäuschen kann, wird durch die collagenhafte Umsetzung ihre Illusion deutlich. Zu den Postkarten gibt es keine klassisch verfassten Grüße. Es sind in Versform auf englisch und auf isländisch geschriebene Texte, die die Künstlerin Lyrics nennt, welche den konfliktreichen Prozess der Immigration beschreiben. Die Lyrik zur Postkarte Nr. 17 liegt zur Ansicht vor. Es werden in diesem Text The Genius Seven erwähnt. Dabei handelt es sich um die Group of Seven, ein Kreis kanadischer Landschaftsmaler am Anfang des 20. Jahrhunderts, die sich vornehmlich mit der Weite der kanadischen Landschaft beschäftigten, abgekoppelt vom alten Europa.In den Zeichnungen auf Packpapier, die gleichzeitig mit beiden Händen gezeichnet wurden und in der Ausstellung übereinander geschichtet liegen, verbindet Michaela Tröscher die Improvisationsmusik mit der Sprache der Lyrics. Am Klavier spielt sie diese Musikstücke ein und zeichnet zu diesen Aufnahmen im Atelier. Sie entstehen mit einer rhythmisierten Energie, die sich durch den Körper entlädt. Die Zeichnung zur Postkarte Nr.17 liegt auch hier zur Ansicht aus.Die ganze Rauminstallation The Immigration wird von dem Konzertflügel bestimmt. Der Konzertflügel als skulpturales Objekt, Klangkörper und Symbol nimmt eine beachtliche Stellung in dem erweiterten Kunstbegriff ein, von der Klanginstallation bis zur Performance. Beuys spricht von einer hörbaren Plastik oder vom materialisierten Klang.Dieses Instrument verschiebt die Grenzen zwischen Kunst, Theater, Musik und Leben. Seit ihrer Kindheit hatte Michaela Tröscher die Vision eine Pianistin zu sein. Neben dem Flügel sehen wir eine Pinselzeichnung eines Instruments gedruckt auf einer Leinentasche aus der früheren Zeit. Seit 2016 nennt sie sich The Icelandic Pianist und improvisiert am Klavier. Mit ihm zelebriert sie die Umsetzung ihrer Vision und verwandelt den Raum in einen Resonanzkörper, eine Bühne, die die Verbindung zu der Welt darstellt.Ist diese Bühne also ein reales Exil vom Schicksal, welches sich von der Fiktion emanzipiert hat, um das Gute zu leben, mag sich der Betrachter und die Betrachterin dieser Ausstellung fragen. Das Glück, die Euphorie des Ankommens, ist in der Musik zu hören. In dieser unkonventionellen Improvisation, die sich Stück für Stück aus der Bildhauerei entwickelt hat, aus der Transformation, die dicht an den einzelnen Stufen der künstlerischen Umsetzung im Bild, Wort und Körper passiert. Obwohl New York, der Sankt-Lorenz-Strom und die kanadischen Städte gleich intensiv von der Künstlerin erlebt werden, ist das Bild des guten Lebens, das die Immigrantin auf ihrem Weg bestärkt, ähnlich wie die Immigrierenden im Roman, mit Kanada verbunden. Das Spinnen der Beziehungen zu Mitmenschen, wie Vilém Flusser meint, in Zusammenarbeit mit ihnen, das verantwortungsvolle Verhalten in der NEUEN WELT, die ja für Michaela Tröscher das New Yorker und das kanadische Europa zugleich ist, nennt die Bildhauerin CANADIAN ATTITUDE.Diese neue offene Haltung lässt sich an der Skulptur Canadian Pancake ablesen. Die auf Rollen stehende Arbeit hat keinen festen Boden und besitzt die Schönheit einer Figur in Bewegung. Dem gegenüber steht die Skulptur American Pancakes, welche eine architektonische Anmutung hat und eine abgeschlossene Geschichte vermittelt.
Andreas Golczewski und Małgorzata Sztremer, im Januar 2022

1 Vilém Flusser, Von der Freiheit des Migranten, Philo Verlagsgesellschaft mbH 2000, S.20.2 Ebd. S.17.
*Híbýli VindannaBö∂var Gu∂mundsson 19951. Ausgabe: Mál og Menning 1995Reykjavik / Island**Lífsins TréBö∂var Gu∂mundsson 19961. Ausgabe: Mál og Menning 1996Reykjavik / Island