"Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann Gegenwart und Zukunft nicht verstehen"

Paul Niedermann, einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers in Gurs, war zu Besuch in Freiburg

Paul Niedermann hat sich noch viel vorgenommen. In Koblenz, so hat er herausgefunden, stehen in einem Bahnmuseum die beiden letzten erhaltenen Waggons der 4. Klasse, die die Reichsbahn schon 1928 ausgesondert hatte. 1940 wurden sie wieder vom Abstellgleis geholt, um Juden aus Deutschland herauszuschaffen. Demnächst wird Paul Niedermann also von Paris nach Koblenz fahren, um die Waggons noch einmal mit eigenen Augen zu sehen, zu fotografieren und sich zu erinnern. Zuletzt saß er mit seinem Bruder und den Eltern vor knapp 74 Jahren auf den harten Holzbänken, unterwegs ins Camp de Gurs am Rand der Pyrenäen.

Zeitzeuge: Paul Niedermann im Gespräch über Verfolgung und Deportation (Foto: Stadt Freiburg)

Der Junge aus Karlsruhe war einer der über 6500 Menschen, die im Oktober 1940 aus Baden und der Pfalz in den unbesetzten Teil Frankreichs nahe der spanischen Grenze deportiert wurden. In Karlsruhe hatten die Nazis beinahe 1000, in Freiburg fast 400 aus ihren Wohnungen geholt. Paul Niedermann und sein Bruder Arnold, beide noch Kinder, haben überlebt. Paul Niedermann ist einer der wenigen, die noch aus eigener Erinnerung über Verfolgung und Deportation, über Dreck, Hunger, Kälte und alltägliches Sterben im Camp de Gurs berichten können. An diesem Wochenende reist er, wie jedes Jahr, in die kleine Gemeinde zum "Tag der Deportierten", der diesmal von der Stadt Freiburg ausgerichtet wird. Wieder eine Reise in die eigene Kindheit.

Ein paar Tage vor Ostern war er in Freiburg, wie jedes Jahr, um in Schulen, Kirchen und Jugendeinrichtungen über sein Leben zu erzählen. Zwischen zwei Vorträgen war Zeit für eine Stippvisite in der Amtsblatt-Redaktion. Die 86 Lebensjahre sieht und merkt man Paul Niedermann nicht an. Jede Sekunde hellwach und konzentriert, mit blitzenden Augen und vielen Lachfalten. Bis vor einigen Jahren kam er noch mit dem Motorrad.

Mit knapp 13 aus Karlsruhe nach Gurs verschleppt

Was Paul Niedermann erlebt hat, das reicht für mehrere Leben. Er war knapp 13, als die Nazis die Niedermanns in Karlsruhe aus dem Haus holten, in einen Zug sperrten und quer durch Frankreich schickten. Was es bedeutet, ein jüdischer Junge zu sein, hatte er schon erfahren, als er wegen der Rassengesetze aus der städtischen Schillerschule geworfen und in eine "Judenschule" gesteckt worden war. "Ich habe dort Jiddisch und Hebräisch gelernt, was im Lager hilfreich war." In den Lagern gab es gar keine Schule mehr.

Von Gurs wurde die Familie bald in das Nachbarlager Rivesaltes verlegt. In Gurs hatte Paul als einziger geheim seine Bar Mitzwa feiern können, das jüdische Fest der religiösen Mündigkeit, mit einer kleinen Thora, die jemand ins Camp hineingeschmuggelt hatte.

Paul Niedermann und der kleine Arnold hatten Glück. Die jüdische Hilfsorganisation OEuvre de secours aux enfants (OSE) schmuggelte sie durch ein Loch im Stacheldraht aus dem Lager heraus. Für die Brüder begann eine Odyssee durch Heime, Bauernhöfe und Verstecke kreuz und quer durch Frankreich, immer in Sorge, von Feldjägern, von der SS oder Verrätern aufgegriffen zu werden. Arnold durfte durch Vermittlung des OSE als knapp 12-Jähriger zu Verwandten in den USA; Paul war mit 14 schon zu alt für das Ausreiseprogramm der Quäker. 1943 kroch er bei Genf unter dem Grenzzaun hindurch in die sichere Schweiz.

Neuanfang in Frankreich nach Kriegsende

Bei Kriegsende war Paul Niedermann 17. Er blieb in Frankreich, weil es in Deutschland niemanden mehr gab, zu dem er hätte heimkehren können. Die Eltern waren tot, ermordet in Majdanek und Auschwitz, der kleine Bruder lebte in Amerika. Selbst noch ein halbes Kind, schlug er sich als Helfer und Betreuer in jüdischen Hilfsorganisationen durch, meistens für Kost, Logis und ein Taschengeld, dann mit Gelegenheitsjobs. Weil er leidenschaftlicher Motorradfahrer war, heuerte er als Reporter bei einer französischen Rennsportzeitung an, arbeitete nebenbei als Fotograf, auch mal als Verkäufer oder Lkw-Fahrer und in anderen Jobs.

Es reichte mit viel Fleiß und einigem Glück irgendwann für eine bürgerlich-bescheidene Existenz mit fester Anstellung und einem kleinen Häuschen bei Paris, und bald auch für die Familiengründung. Seine französische Frau brachte zwei Kinder mit in die Ehe. Deutschland war weit weg. Das geregelte Leben war auch ein Schutzschild, hinter dem sich die Erinnerungen an das Lager und die Flucht verdrängen ließen.

Zeuge im Prozess gegen den "Schlächter von Lyon"

Die Begegnung mit dem französischen Anwalt und Nazijäger Serge Klarsfeld in den 1980er-Jahren hat Paul Niedermanns Leben umgekrempelt. Klarsfeld hatte Klaus Barbie, ehemals SS-Kommandant und berüchtigt als "Schlächter von Lyon", aufgespürt und in Lyon vor Gericht gebracht. Im Prozess sagte Paul Niedermann als Zeuge über seine Zeit in dem Kinderheim Izieu im französischen Jura aus, aus dem Barbie 44 jüdische Kinder und sieben Erwachsene nach Auschwitz verschleppt hatte. Zum ersten Mal sah sich Niedermann mit der  eigenen Geschichte konfrontiert, die er lange verdrängt hatte, um überleben zu können, und zum ersten Mal musste er den eigenen Leidensweg öffentlich machen. "Der Staatsanwalt wollte alles wissen, und das war für mich sehr schwer", schreibt Niedermann in seinen 2011 in Karlsruhe erschienenen Erinnerungen.

Er begann, über die eigene Geschichte und die eigenen Erfahrungen zu sprechen: Zunächst in Karlsruhe auf Einladung des Oberbürgermeisters. Beim ersten Besuch in seiner Heimatstadt traf er fünf Jugendfreunde wieder – fünf von 40, die nach Gurs gebracht worden waren. Die anderen waren ermordet worden. Es folgen Vorträge in Schulen, bei kirchlichen Einrichtungen und zweimal sogar im Bundestag. Nach Freiburg kommt er seit über 25 Jahren auf Einladung des Ordinariats, das ein strammes Programm mit Vorträgen und Diskussionsrunden organisiert. Fahrtkosten, Unterkunft und Verpflegung in der Katholischen Akademie – mehr will er nicht. Seine Frau starb vor 25 Jahren, und er selbst lebt bescheiden.

Einen bis zwei Vorträge schafft er pro Tag, jedes Mal mehrere Stunden, weil er viel zu erzählen hat und die jungen Leute viel wissen wollen. In den meisten Schulen war er schon mehrfach, aber "es kommen ja immer neue Schüler". Ein paar Tausend werden es gewesen sein, vor denen er gesprochen hat. Seine Botschaft ist einfach: "Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann nicht die Gegenwart und die Zukunft verstehen." Und diese Botschaft vermittelt Paul Niedermann nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern in versöhnlicher Tonart. Jeden Vortrag beginnt er mit denselben Sätzen: "Ich komme nicht, um mit irgend jemanden abzurechnen, und niemand hat das Recht, junge Menschen verantwortlich machen zu wollen für Dinge, die lange vor ihrer Zeit geschehen sind." Die Besuche in Deutschland sind auch ein Stück Versöhnung mit dem eigenen Vaterland. Heute, so sagt der französische Staatsbürger Paul Niedermann, "bin ich nicht im Streit mit Deutschland".

„Nach mir gibt es keine Zeitzeugen von Gurs mehr“

Ans Aufhören denkt er noch lange nicht: "Solange ich kann, mache ich weiter, weil es nach mir keine Zeitzeugen von Gurs mehr geben wird." Und seine Augen werden feucht, wenn er über den Anruf aus Berlin im Jahr 2007 erzählt, der Bundespräsident habe ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Ein Orden des Landes, das ihm vor 74 Jahren die Heimat genommen und die Eltern umgebracht hatte. "Darauf war ich sehr, sehr stolz." Die kleine schwarz-rot-goldene Ordensschleife trägt er immer am Revers. Letztes Jahr, zu  seinem 85. Geburtstag, zeichnete die Stadt Karlsruhe ihn mit der Ehrenmedaille aus.

Stichwort

Das Camp de Gurs am Rande der Pyrenäen war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg für Flüchtlinge aus dem Spanischen Bürgerkrieg eingerichtet worden und das größte Internierungslager in Frankreich. Nach dem Überfall auf Frankreich nutzten die Nazis es für die Internierung von deutschen Juden. Am 22. Oktober 1940 wurden über 6500 Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland nach Gurs deportiert. Rund 2000 von ihnen starben bereits in Gurs durch Hunger, Krankheit und Entkräftung.

Die meisten Insassen wurden anschließend über das Nachbarlager Rivesaltes in die KZs im Osten, überwiegend nach Auschwitz, gebracht und dort ermordet. Einigen wenigen – unter anderem der Heidegger-Schülerin Hannah Arendt – gelang die Flucht aus den Lagern, zumeist mit Hilfe jüdischer Untergrundorganisationen wie das OSE, das auch Paul Niedermann und seinem Bruder zur Flucht verholfen und bis Kriegsende versteckt hat. Zwischen 1939 und 1945 waren knapp 64 000 Menschen in Gurs interniert.

Seit Anfang der 1960er-Jahre unterhalten die badischen Städte in Gurs gemeinsam eine Gedenkstätte und den Friedhof. Jeweils Ende April wird der Opfer mit einem „Tag der Deportierten“ gedacht, der jährlich wechselnd von einer anderen Stadt ausgerichtet wird, in diesem Jahr durch die Stadt Freiburg.