Zeitzeugen
Azize Şen
Wenn wir in die Türkei gehen, sind wir in der Türkei auch Ausländer.
Herkunftsland: Türkei
Alter: 54 Jahre
Einreise: 1970
In Freiburg seit: 1995
Staatsangehörigkeit: Türkisch
Frau Şen ist 1970 mit 18 Jahren nach Deutschland gekommen, weil es in der Türkei wenig Arbeit gab.
"Am 30. Juni bin ich hierher gekommen und hab zwei Stunden Mittagsschlaf gehalten und dann abends gleich gearbeitet."
Zunächst war sie in einer Gaststätte angestellt, später arbeitete sie Akkord in einer Fabrik. 1972 hat Frau Şen in der Türkei geheiratet und ist mit ihrem Mann zurück nach Deutschland gekommen. In den Jahren danach bekamen sie fünf Kinder. Trotz der familiären Anforderungen hat Frau Şen weiterhin Akkord gearbeitet. Jetzt ist dies nicht mehr möglich, da sie krank ist. Wie viele andere Arbeitsmigranten wollte auch Frau Şen nur einige Jahre in Deutschland bleiben.
"Ich habe gedacht, ich spare ein paar tausend Mark und gehe wieder in die Türkei, vielleicht lebe ich dann gut."
Aber sie ist geblieben.
"Weil du nicht so viel sparen kannst. Du lebst hier, zahlst Miete, da kannst du nicht viel sparen. Dann nachher kommen die Kinder, die Kinder wachsen, die Kinder wollen nicht in die Türkei gehen, wenn ich alleine in die Türkei gehe, lohnt sich das nicht."
Inzwischen sind die Kinder ausgezogen und verheiratet. Frau Şen denkt, dass sie auch in Zukunft in Deutschland bleiben wird, denn ihre Kinder und ein Großteil ihrer Familie sind hier und sie würde sie vermissen. Aber es ist nicht nur die Familie, die sie hier hält.
"Ich bin mit 18 Jahren nach Deutschland gekommen, jetzt bin ich 53. Ich habe nicht so lange in der Türkei gelebt wie in Deutschland. Ich würde alle vermissen."
In Deutschland hat sie hauptsächlich Kontakt zu anderen türkischen Einwanderern. Es ist ihr sehr wichtig, die Traditionen aus der Heimat zu bewahren. Einen besonderen Stellenwert hat für Frau Şen die Religion. Sie ist gläubige Muslimin und lebt nach den Gesetzen des Korans. Einmal die Woche trifft sie sich mit anderen Frauen zum Koran lesen. Fast jedes Jahr fährt sie auf Besuch in die Türkei. Frau Şen hätte gerne mehr Kontakt zu ihren deutschen Nachbarn, aber es ist schwierig für sie.
"Sind sie nicht beleidigt, wenn ich das so sage. Ganz wenig Deutsche haben mit Ausländern einen guten Kontakt. Viele sagen »Bleib weg«. Wenn ich hier nach draußen gehe zieht sich mein ganzer Körper ein, weil die Leute zu mir »Ausländer« sagen, oder »Türkin«."
Trotzdem fühlt sie sich auch in der Türkei nicht mehr daheim.
"Wenn wir in die Türkei gehen, sind wir in der Türkei auch Ausländer."
Denn die Menschen dort sehen sie nicht mehr als Türkin. Das macht sie traurig. Es ist Frau Şen wichtig, die guten und schlechten Seiten von beiden Ländern zu sehen. Auch in Deutschland hat Frau Şen vieles zu schätzen gelernt und gute Erfahrungen mit Deutschen gemacht. Sie glaubt, dass es überall gute Menschen gibt. Auch wenn sie sich vorstellen kann, in der Rente einen Teil des Jahres in der Türkei zu leben, möchte sie den Winter auf jeden Fall in Deutschland verbringen. Da sie Rheuma hat, weiß sie die Zentralheizungen zu schätzen. An Freiburg gefällt ihr besonders, dass das Wetter fast so warm ist, wie in der Türkei. Frau Şen möchte gerne bei ihrer Familie alt werden.
"Ich habe fünf Kinder, ich hoffe, sie sorgen für mich. Ich habe mit fünf Kindern Akkord gearbeitet. Zwanzig Jahre. Vielleicht geben meine Kinder auch ein bisschen für mich. Wenn nicht, dann ist es auch kein Problem. Ich kann nicht sagen: »Du musst mich pflegen!."
Sie kann sich nur schwer vorstellen in einem Altersheim zu leben. Es ist ihr besonders wichtig jeden Tag spazieren gehen zu können.
"Wenn ich ein Tag nicht nach draußen geh, muss ich am nächsten Tag."
Kein Problem hätte sie damit, von Deutschen gepflegt zu werden. Frau Şen ist aufgrund der vielen Arbeit und des Stresses krank geworden. Das macht ihr Angst vor der Zukunft. Trotzdem möchte sie fröhlich leben. Sie wünscht sich, viel Zeit zu haben. Sie möchte ihre Kinder besuchen können und immer wieder in die Türkei gehen.
Quelle: Ausstellung Migration und Alter, Vorlagen erhalten von Herrn Hauser, Fachdienst Migration im Komturhof