Wie kann die Erinnerung an das Grauen wachgehalten werden? Das fragt der Historiker und Referent Wolfgang Benz. (Foto: Kulturamt)

Wolfgang Benz

Auschwitz heute Perspektiven der Erinnerung

Vortrag am 27. Januar 2016 in Freiburg

1. Der Stand der Erinnerungskultur

Nach einer langen Zeit der Amnesie, des Nichterinnertwerden – und Nichterinnernwollens gibt es heute eine deutsche Erinnerungskultur, die nicht ihresgleichen in der Welt hat. Wir lassen uns bewundern für unseren Umgang mit belasteter Geschichte. Anders als der Völkermord an den Armeniern, der vor einhundert Jahren im Ersten Weltkrieg begann, der von den Tätern bis heute verleugnet und marginalisiert wird, hat der Holocaust mit dem heutigen Gedenktag, mit der Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945, mit Gedenkstätten, Denkmalen, Museen, mit Filmen und in der Literatur einen Platz im öffentlichen Bewusstsein.

In Berlin existiert heute eine Erinnerungslandschaft mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas (2005) und Mahnmalen für die verfolgten Homosexuellen (2008), die ermordeten Sinti und Roma (2012), für die Opfer der Euthanasie (2015). Das Jüdische Museum ist ein Besuchermagnet, die Topographie des Terrors, das Haus der Wannseekonferenz, das Centrum Judaicum sind vielbesuchte Veranstaltungsorte. Die Erinnerung an die ausgegrenzte, dann diskriminierte und verfolgte, schließlich ermordete Minderheit der Juden ist heute lebendiger als in den ersten Jahrzehnten nach dem Zivilisationsbruch, den Deutschland im Nationalsozialismus verübte. Als der NS-Staat zusammenbrach wollte man nicht gerne zurückdenken. Die Alliierten, die Deutschland befreit und besetzt hatten, die das deutsche Volk auf dem Weg zur Demokratie anleiteten, übten eine Erziehungsdiktatur, zwangen die Bevölkerung zum Augenschein in den Konzentrationslagern, klagten die NS-Verbrecher an und richteten sie. Das wurde weithin als anmaßende und unerwünschte „Umerziehung“ diffamiert und den pädagogischen Bemühungen der Alliierten folgten lange Jahre des Beschweigens und Verdrängens. Ich gehöre der Generation an, deren Eltern uns das Gespräch über die jüngste deutsche Geschichte verweigerten. Erst ein Hollywoodfilm, der TV-Vierteiler „Holocaust“ brach Ende der 1970er Jahre die Mauern der Abwehr, rührte Emotionen auf und machte „betroffen“.

Die Zuversicht, nach der Katastrophe des Völkermords an sechs Millionen Juden könne es keine Judenfeindschaft mehr geben, hat sich sehr schnell als schöne und edle Illusion erwiesen, Antisemitismus in allen seinen Versionen blieb lebendig, zwei Spielarten des Ressentiments entstanden sogar neu. In der DDR war die Feindschaft gegen den Staat Israel als Antizionismus Teil der Staatsdoktrin mit nachhaltigen Folgen. In der Bundesrepublik rankte sich ein sekundärer Antisemitismus an Wiedergutmachungs- und Entschädigungsleistungen empor. Die Juden würden sich an ihrem Unglück bereichern, seien unversöhnlich, geld- und rachgierig behaupteten die Antisemiten jetzt. Es ist eine Judenfeindschaft nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, die ebenso virulent ist wie ein Antizionismus, der nichts mit legitimer Kritik an Israel und seiner Regierung zu tun hat, der sich vielmehr der Israelschelte bedient, um generell judenfeindliche Emotionen zu artikulieren.

Judenfeindschaft gibt es also immer noch. Gottlob ist sie sanktioniert wie in keinem anderen Land und zeigt sich nur als Bodensatz der Gesellschaft. Manifest wird Antisemitismus vor allem in Propagandadelikten, in nächtlichen Attacken gegen jüdische Friedhöfe. Aber es ist nicht möglich, in Deutschland ungestraft Juden öffentlich zu beleidigen oder gar Gewalt gegen sie zu üben. Darin ist sich die überwältigende Mehrheit der Deutschen einig. Trotzdem ertönt, seit Jahrzehnten, regelmäßig die Alarmglocke, wird vom dramatischen Anstieg des Antisemitismus geredet und geschrieben oder ein neuer Antisemitismus beschworen. Die Erkenntnis der Wissenschaft, die sich mit Judenfeindschaft beschäftigt ist eine andere: Der Anteil der Ressentiments gegen Juden auf der Einstellungsebene ist seit langer Zeit bei etwa 20% konstant, hat kaum Aktionsbedürfnis und ist nicht öffentlich. Bösartige Judenfeindschaft, wie sie von Rechtsextremen propagiert wird, ist signifikant gering, liegt bei zwei oder drei Prozent und wird als kriminelles Delikt wie Holocaustleugnung oder Volksverhetzung geahndet.

Die politische Kultur der Bundesrepublik steht im Zeichen des Philosemitismus. Darin sind sich kulturelle und gesellschaftliche Eliten einig mit der Politik und den Medien. Haben wir also die Lektionen der Geschichte gelernt? Sind wir geläutert durch Erinnerung, demokratisch und tolerant, ein Vorbild für andere? Es schien so, als hätten wir die böse Vergangenheit überwunden, als wir die Flüchtlinge, die andere europäische Länder kategorisch ablehnten, in Deutschland willkommen hießen. Das ist ein paar Monate her. Droht jetzt die Euphorie des Helfens durch kleinmütige Verzagtheit ob ihrer Zahl, durch Unfähigkeit von Bürokraten, im Streit der Politiker zu versanden? Die Kanzlerin hat inzwischen einen dramatischen Beliebtheitsverlust hinnehmen müssen. In dem Moment, in dem durch die Willkommensgeste gegenüber Asylbewerbern, Bürgerkriegsflüchtlingen das Odium der NS-Zeit sich aufzulösen schien, erhob sich Fremdenhass mit größter Roheit.

Im Frühjahr 2013 ist eine neue bürgerliche Partei rechts des etablierten Spektrums entstanden. Mit beträchtlichem Erfolg bündelte sie Protestpotenzial gegen Europa, sie gewann Anhänger mit dem populistisch intonierten Sehnen nach der Wiederkehr des Nationalstaats. Im Herbst 2013 verfehlte die "Alternative für Deutschland" ganz knapp den Einzug in den Bundestag. Heute ist sie in den Umfragen die drittstärkste Partei. Mit dem Plädoyer gegen Zuwanderung und zur Bewahrung "abendländischer Kultur", mit Feindseligkeit gegen Muslime und Parolen gegen eine als bürgerfeindliche Schimäre denunzierte "political correctness" zog die AfD ins Europaparlament und dann in die Landtage von Thüringen und Brandenburg.

Seit mehr als einem Jahr demonstrieren Wutbürger montäglich gegen die Idee der Toleranz, offenbaren ein krudes Weltbild aus Fremdenhass und Zorn gegen die Obrigkeit und gegen den politischen Konsens der Mehrheit, sie zeigen sich als frustrierte Underdogs, die sich von Partizipation ausgeschlossen fühlen, weil sie das System der repräsentativen Demokratie nicht verstehen wollen und die Möglichkeiten politischer Teilhabe, die geboten sind, verschmähen und verachten.

Das auftrumpfende Unbehagen, das die "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) unter der geklauten Parole "Wir sind das Volk" demonstrieren, hat außer dem Missmut über komplexe und schwer verständliche politische Strukturen kein Programm. Verschwörungsphantasien lenken die Wut gegen Politiker und Bürokraten, beschwören Argwohn gegen die Medien. Die Probleme Europas und die Realität der Globalisierung erzeugten den Wunsch nach nationalstaatlicher Geborgenheit, das bedeutet aber auch Nationalismus und Ausgrenzung sowie Abwehr von Fremden. Als gemeinsamer Nenner gefühlter Ängste und plagender Sorgen dient das Feindbild Islam. Gedungene Scharfmacher hantieren mit den Versatzstücken rechter Ideologie, predigen Fremdenhass, Islamfeindschaft und Nationalismus, sie bedienen damit Existenzängste und Frustrationen ihrer ratlosen Klientel.

Die Radikalisierung war vorgezeichnet, wurde aber spät erkannt. Wenn "Ausländer raus" gegrölt wird, wenn Wohnheime brennen, wenn bei einer Pegida-Veranstaltung ein Galgen für die "Volksverräterin" Merkel herumgetragen wird, dann artikulieren Politiker und Medien im Schulterschluss Abscheu vor Rechtsextremen, verurteilen gar die Demonstrierenden als "Pack". Aber sie wollen nicht wahrhaben, dass die Intoleranz in der Mitte der Gesellschaft beginnt.

Der Flüchtlingsstrom bot der Pegida-Bewegung dann endlich Ziel und Programm mit konkretem Fremdenhass. Stimuliert von der radikal erneuerten und zur rechten Protestpartei mutierten AfD und instrumentalisiert durch die NPD finden sich die Pegidaleute wieder auf den Straßen Dresdens und andernorts, brüllen Hasspredigern Beifall und bestätigen sich gegenseitig in ihrer Abneigung gegen politische Moral und bürgerlichen Anstand. Sie verwahren sich mit gebotener Entrüstung gegen den Vorwurf des Rechtsextremismus, betreiben aber in dumpfer Wut dessen Geschäft. Das sieht eher aus nach einem Rückfall in die Barbarei als nach gelernter Geschichtslektion.

Die Pegidagefolgschaft legt Wert auf bürgerlichen Habitus und will sich nicht als rechtsextrem beschimpfen lassen. Begreifen müsste sie aber: Die Lehren aus der Katastrophe des Nationalsozialismus müssen für den Umgang mit allen Minderheiten gelten. "Fremde" dürfen nicht als Störenfriede spießbürgerlichen Behagens und dumpfpatriotischen Selbstgenügens stigmatisiert werden. Der Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im Stress der Wende 1992 war ein Menetekel. Der Hass gegen Fremde und die Angst vor Asylbewerbern und die Wut gegen Muslime lassen zweifeln, wie tragfähig die häufig deklamierte Metapher "Nie wieder" im Alltag ist. Die Erinnerung an Auschwitz bleibt unfruchtbar, wenn sie den aktuellen Zustand unserer Gesellschaft nicht einbezieht.

2. Historische Determinanten der Krise der Gegenwart

Europa befindet sich in einer Krise, die auch die deutsche Gesellschaft erfasst hat. Die Angst vor der Völkerwanderung aus Bürgerkriegsflüchtlingen und Migranten, die aus schierer existentieller Not kommen, die Gefahr, die angeblich von Zuwanderern überhaupt und vom Islam besonders ausgeht, ist Bestandteil des Alltags geworden. Die Reizvokabeln der Ideologen finden den Nährboden in existenziellen Ängsten. Die Adressaten sind resistent gegen rationale Argumente, denn Bedrohungsszenarien und Verschwörungsfantasien sind wirkungsvoller als Vernunft und Logik. Die Rezepte der Ausgrenzung, mit denen im 19. Jahrhundert Demagogen ähnlichen Herausforderungen zu begegnen versuchten, haben in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt. Sie wieder zu verwenden gegen andere Minderheiten anstelle der Juden wäre fatal. Denn es geht nicht nur um die Menschen- und Bürgerrechte von Minderheiten, sondern um die demokratische Gesellschaft, die aus der Erfahrung nationalsozialistischer Diktatur gegründet wurde.

Die Phantasie derer, die sich der Untaten des NS-Regimes schämten, die sich nach dem Pogrom Juden gegenüber solidarisch zeigten, dürfte im November 1938 kaum weiter gereicht haben als zur Vorstellung, die Machthaber wollten die Juden gewaltsam ins Ghetto zurücktreiben oder schlimmstenfalls endgültig aus Deutschland jagen. Bis Auschwitz reichte keine Vorstellungskraft. Wie hätte sie das auch können, überstieg doch das Bevorstehende, die mit dem Pogrom erst eingeleitete letzte Ausgrenzung, noch lange die Phantasie sogar der meisten unmittelbar vom nationalsozialistischen Rassenwahn Betroffenen.

Die Verfolgung der Juden begann mit ihrer Ausgrenzung, ihrer Stigmatisierung als Fremde, als Andere. Lange bevor Gewalt gegen sie geübt wurde. Es begann mit der Diskriminierung aus religiösen Gründen. Dem religiös argumentierenden Antijudaismus des Mittelalters und der Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert folgte der rassistische Antisemitismus, der seinen Höhepunkt im Holocaust, im Völkermord an sechs Millionen Juden, hatte.

3. Verweigerte Erinnerung

Erinnern wir uns am Auschwitz–Gedenktag auch an das Schicksal der Holocaustopfer, die 1945 befreit wurden und Schutz, Zuwendung, Heimat brauchten. Die Vorstellung, dass nach der jüdischen Katastrophe Antisemitismus als Einstellung gegenüber Juden erledigt sei, war eine schöne Illusion. Keineswegs war Judenfeindschaft in der Erkenntnis des Menschheitsverbrechens Holocaust oder aus Anstand und Einsicht widerlegt und ein für allemal geächtet. Das erfuhren die überlebenden Juden nicht erst, als sie, aus den Ghettos und Lagern befreit, in einstige Heimatländer und -orte zurückkehrten oder wieder in Lagern als Displaced Persons im Wartesaal lebten, wo sie auf eine künftige Existenz in Israel oder den USA oder sonst irgendwo in Übersee hofften.

Die Rückkehr in den Heimatort war nur für wenige Juden, die KZ, Vernichtungs- oder Zwangsarbeitslager überlebt hatten, eine Option. Wenn überhaupt noch Reste einstiger bürgerlicher Existenz erhalten waren, gab es kein Willkommen und kaum irgendwo freudigen Empfang. Die Regel war abweisendes Verhalten, Nichterinnern an jüdisches Eigentum, das vor der Deportation bei nichtjüdischen Freunden und Bekannten zu treuen Händen in Obhut gegeben worden war. Sowohl die offiziellen als auch die privaten Reaktionen von Nachbarn waren frostig. Hans Frankenthal, der im Sommer 1945 als 19jähriger aus Auschwitz und dem KZ Mittelbau-Dora mit seinem Bruder nach Schmallenberg im Sauerland zurückkehrte, berichtet, dass niemand nach seinem Vater fragte, der ein angesehener Mann im Ort gewesen war, dass niemand wissen wollte, wo Eltern, Verwandte, wo die anderen Juden geblieben waren. Hans und Ernst Frankenthal errichteten mitten in der Stadt einen Grabstein mit der Inschrift "Hier stand die Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde von Schmallenberg. Sie wurde am 10. November 1938 von den Nationalsozialisten gebrandschatzt und zerstört". Es gab keine Reaktion, weder Behörden noch Bürger ließen eine Regung erkennen.

Das Auftauchenaus dem Leben in der Illegalität, in der eine geringe Zahl von Juden in Deutschland den Holocaust überlebte, war von den Erfahrungen des Untergrunds belastet, von der Demütigung des versteckten Lebens, der Abhängigkeit und dem Wohlwollen der Helfer, von der ständigen Todesangst, von Ausgestoßensein und dem Zwang, unauffällig zu sein, nicht als Jüdin oder als Jude erkannt zu werden. Die Raffgier von Menschen, die als selbstlose Freunde betrachtet wurden, die sich ihre Hilfe teuer bezahlen ließen, die sich an untergestellter Habe bereicherten, wofür der Begriff "Judenfledderer" gebraucht wurde, war ein schmerzliches Erlebnis und das Erstaunen von Nachbarn beim Erscheinen Totgeglaubter war oftmals keineswegs das freudige Willkommen, das erwartet oder wenigstens erhofft wurde.

Die deutschen Nichtjuden waren mit eigenem Leid und eigenen Nöten nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches beschäftigt. Die Sorge um Karriere, materielle Existenz, die drohende Entnazifizierung, Scham- und Schuldgefühle, Aufbäumen gegen die Demütigung alliierter Besatzung und das Ende aller nationalstolzer Illusion beherrschten die Gefühle in der deutschen Gesellschaft. Für Empathie mit den Opfern der NS-Ideologie blieb kein Raum. Solidarität war kaum mit den Heimatvertriebenen an der Tagesordnung, die immerhin Deutsche waren, auch wenn sie als Fremde behandelt wurden. Deutsche Juden wurden hingegen, das war eine Spätfolge nationalsozialistischer Propaganda, als Juden, aber nicht mehr als Deutsche behandelt. Dass ihre Behandlung korrekt war, dafür sorgten die Besatzungsmächte. Das machte die Juden aber wieder suspekt. Sozialneid wegen der angeblichen Besserstellung kam zum Selbstmitleid, in das sich nach dem verlorenen Krieg und zerstobenem Selbstbewusstsein viele Deutsche flüchteten. Juden, die aus Verstecken auftauchten, waren wie die aus Lagern befreiten Displaced Persons eher Objekte des Misstrauens, der Reserve und Abneigung als Gerettete, die freudig begrüßt wurden. Unerwünscht waren auch die wenigen Juden, die aus dem Exil zurückkehrten.

Gelegentlich wurde auch öffentlich manifest, dass die Sympathie ndes Publikums nicht auf Seiten der Opfer, sondern der Täter war en. Am 7. Januar 1951 protestierten etwa 4000 Menschen in Landsberg am Lech gegen die bevorstehende Hinrichtung Otto Ohlendorfs. Der SS-G eneralwar Amtschef im Reichssicherheitshauptamt gewesen und hatte die Einsatzgruppe D kommandiert, die in Südrussland und der Ukraine 90 000 Menschen, einschließlich Frauen und Kinder, systematisch ermordet hatte. Im Nürnberger Einsatzgruppenprozess war Ohlendorf zum Tod verurteilt worden, er wartete im Landsberger Gefängnis mit anderen verurteilten NS-Tätern auf die Vollstreckung des Urteils. Die Kundgebung im Januar 1951 galt nicht nur ihm, sondern demonstrierte generell Sympathie für NS-Verbrecher. 300 Holocaustüberlebende waren nach Landsberg zu einer Gegendemonstration angereist. Sie versuchten, durch Zwischenrufe auf ihr Schicksal, auf den Judenmord aufmerksam zu machen. Die Stimmung war mit dem Plädoyer für Begnadigung in weiten Teilen der Bevölkerung, die die Nürnberger Prozesse als Siegerjustiz wertete, aber gegen die jüdischen Demonstranten. Sie mussten das Gebrüll "Juden raus!" anhören, einige jüdische Gegendemonstranten wurden verhaftet.

Auch daran müssen wir uns erinnern, wenn wir nach Perspektiven künftigen Gedenkens fragen.

4. Wissen und Emotion

Die Erinnerung an den Holocaust setzt Wissen voraus, sonst erstarrt das Gedenken in Ritualen und Emotionen. Das ist eine Herausforderung an Historiker und Pädagogen in einer medial immer unübersichtlicheren Welt. Vielleicht haben wir das Erinnern, Gedenken und Mahnen zu lange den Zeitzeugen überlassen, ihnen nicht nur die Arbeit des Erinnerns sondern auch den Versuch des Erklärens überlassen. In einer Zeit, in der es keine Zeugen mehr gibt wird es jedenfalls schwieriger, sich mit dem Menschheitsverbrechen des Judenmords auseinanderzusetzen. Heutigen Jugendlichen erscheint Auschwitz und Treblinka, Majdanek und Sobibor, Babij Jar und Belzec unendlich fern und umso unverständlicher. Nicht nur die historische, d. h. zeitliche, Distanz muss überwunden werden, um verständlich zu machen, wie aktuell und wichtig die Beschäftigung mit dem Holocaust ist, denn immer noch gibt es den Antisemitismus, der den Weg zum Völkermord bereitete. Außer der zeitlichen Distanz zu Auschwitz gibt es das vermeintliche Unbeteiligtsein derjenigen, die in Deutschland zugewandert sind und Desinteresse ihrer Nachkommen.

Wer in Deutschland leben will, kann aber nicht Kenntnis und Wissen über die Shoah verweigern und der Auseinandersetzung mit dem Judenmord ausweichen. Das geht mit keinem Argument und schon gar nicht mit dem, das gehe sie oder ihn als Zuwanderer aus einem anderen Kulturkreis nichts an oder gar mit der Behauptung, man habe etwas gegen Israel oder gegen die Juden oder glaube nicht an die Realität des Holocaust. Solches Verweigern ist nicht hinnehmbar, nicht in der Schule, nicht am Arbeitsplatz, nicht in der Öffentlichkeit, Nirgendwo.

5. Vom Sinn der Rituale

Rituale und Zeremonien, wie sie am heutigen Gedenktag begangen werden, im Deutschen Bundestag, in Landesparlamenten, in Städten, in Schulen, wo auch immer: Sie sind notwendig zur öffentlichen Vergewisserung der Gesellschaft über unsere Werte, über Demokratie und Toleranz, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Kultur, Armut, Hautfarbe. Denn mit der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Minderheiten beginnt, was im Völkermord endet. Hass löst keine Probleme, sondern schafft größere, als die, die man durch Feindschaft zu lösen glaubt. Das gilt angesichts der Flüchtlinge, die derzeit bei uns Schutz und Hilfe suchen. Das Gedenken an Auschwitz schließt die Erinnerung an die Flüchtlingsströme ein, die der Nationalsozialismus in Bewegung setzte, erst durch die Vertreibung politisch Andersdenkender, dann der Juden, schließlich im Exodus der 12 Millionen Heimatvertriebenen, die als Folge nationalsozialistischer Herrschaft verjagt wurden.

Wir erinnern uns an das Schicksal der Flüchtlinge aus Nazideutschland, an die Demokraten und anderen politischen Gegner Hitlers (von Kommunisten bis zu Konservativen), die ins Exil gejagt wurden. Wir erinnern uns an die deutschen Juden, wenn wir heute Flüchtlinge willkommen heißen.

Bis 1939 forcierte und bremste der NS-Staat die Auswanderung der deutschen Juden gleichzeitig. Die Verdrängung aus der Wirtschaft förderte zwar deren Emigrationswillen, aber die Ausplünderung durch Vermögenskonfiskation und ruinöse Abgaben hemmte die Auswanderungsmöglichkeiten. Kein Immigrationsland ist an verarmten Einwanderern interessiert, und eine Heimtücke des Regimes bestand darin, dass es den Antisemitismus zu exportieren hoffte, wenn die aus Deutschland vertriebenen verarmten Juden zum sozialen Problem in den Aufnahmeländern würden. Hannah Arendt zitiert ein Zirkular des Auswärtigen Amts vom Januar 1939, in dem unmissverständlich ausgedrückt war „daß es sich bei diesen Verfolgungen nicht so sehr darum handle, die Juden loszuwerden, als den Antisemitismus in die westlichen Länder, in denen Juden Zuflucht gefunden haben, zu tragen ... Dabei wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es im deutschen Interesse liege, die Juden als Bettler über die Grenzen zu jagen, denn je ärmer der Einwanderer sei, desto größer die Last für das Gastland.“

Die Welt verhielt sich gleichgültig gegenüber der Not der Juden. Im Juli 1938 fand in Evian am französischen Ufer des Genfer Sees eine Internationale Konferenz statt, die den Problemen der jüdischen Auswanderung aus Deutschland gewidmet war. Eingeladen hatte der amerikanische Präsident Roosevelt, gekommen waren Vertreter von 32 Staaten und vieler jüdischer Organisationen. Außer der Etablierung eines „Intergovernmental Committee on Political Refugees (IGC)“ mit Sitz in London und der vagen Zusicherung einiger Staaten, die bestehenden Einwanderungsquoten könnten in Zukunft voll ausgeschöpft werden, geschah jedoch nichts, was die Emigrationsmöglichkeiten der Juden aus Hitlers Machtbereich verbessert hätte.

Auch daran müssen wir uns erinnern, wenn wir über sechs Millionen ermordete Juden trauern und zur Erinnerungs- und Gedenkkultur gehört dann die Lehre aus der Geschichte. Wenn wir Flüchtlinge, die heute bei uns Hilfe begehren, abweisen, weil wir lieber unter uns bleiben möchten, weil wir sie als gefährliche Fremde sehen wollen und unsere Ruhe in der Festung Europa haben möchten – wenn wir so reagieren, dann haben wir nichts gelernt und wandeln unter dem frommen Lippenbekenntnis, dass sich die Barbarei nie wiederholen dürfe, in den Spuren der Nationalsozialisten und derer, die ihnen Beifall gespendet haben und dann später scheinheilig wurden.

Es ist wohl richtig, dass es unter muslimischen Migranten viele gibt, die den Staat Israel nicht mögen und Juden nicht lieben. Aber sie kommen nicht als Missionare des Antisemitismus oder als aggressive Islamisten, sondern als Flüchtlinge vor Bürgerkrieg und existenzieller Not. Dass Antisemitismus in Deutschland nicht geduldet wird, ist so selbstverständlich wie die Geltung unserer Gesetze und Werte. Wer dagegen verstößt muss selbstverständlich bis zur letzten Konsequenz darauf hingewiesen werden und abscheuliches Verhalten, wie in der Silvesternacht geschehen muss rasch und hart geahndet werden. Aber deshalb dürfen wir nicht alle Muslime, weil sie Muslime sind, unter Generalverdacht stellen, wie einst alle Juden, weil sie Juden waren, ausgegrenzt, diffamiert, diskriminiert, verfolgt und ermordet wurden.

Der jüdischen Überlebenden von Auschwitz Ruth Klüger, die heute im Deutschen Bundestag die Gedenkrede hielt, ist zu danken, dass sie auf den Zusammenhang der Vertreibung der Juden aus Nazideutschland 1933 und der Einladung von Bürgerkriegsflüchtlingen durch die Bundeskanzlerin 2015 hingewiesen hat. Die Ängste und Sorgen vieler Bürger sind ernst zu nehmen, auch die von Juden, die vor einer Zunahme des Antisemitismus warnen, weil Muslime aus Syrien nicht unbedingt Freunde Israels sind.

Aber der historische Augenblick, der uns ein Stück vom Odium des Barbarentums nimmt, war der, als den Hilfsbedürftigen und Schutzsuchenden an Deutschlands Grenzen die Arme geöffnet wurden. Dass die Aufnahme Probleme schafft, dass es schwierig ist steht fest. Dass es zu schaffen ist, aber auch, nach 12 Millionen Heimatvertriebenen, die Deutschland im ersten Nachkriegsjahrzehnt integriert hat, nach 4 Millionen DDR-Flüchtlingen, die von der Bundesrepublik aufgenommen wurden, nach zwei Millionen Spätaussiedlern aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion.

6. Fazit

Ich habe versucht zu zeigen, wie das Erinnern und Gedenken an Auschwitz mit den aktuellen Problemen von Gesellschaft und Politik verknüpft ist. Gedenktage wie Mahnmale und Gedenkstätten haben die Aufgabe, Erinnerung zur Selbstvergewisserung zu ritualisieren. Das ist wichtig und notwendig, aber es genügt nicht. Alltägliches Erinnern als Grundlage politischen und sozialen Handelns ist unerlässlich, auch wenn es mit der wachsenden zeitlichen Entfernung vom historischen Geschehen schwieriger wird.

Der Holocaust war ein Menschheitsverbrechen. Wir gedenken in Trauer und Scham dessen, was der jüdischen Minderheit angetan wurde. Lernen müssen wir daraus aber auch, dass andere Minderheiten auf die gleiche Weise, mit den gleichen Methoden diskriminiert werden können mit allen Folgen. Den Sinti und Roma, die wie die Juden Opfer genozidaler Vernichtung wurden, hat man lange Zeit kein Mitleid, kein Verständnis entgegengebracht, keine Wiedergutmachung gewährt. Es sei ihnen Recht geschehen, lautete die manchmal ausgesprochene, meist stillschweigende Meinung der Mehrheit. Die „Zigeuner“ seien Opfer von Krimnalprävention gewesen, sie seien also selber schuld an ihrem Unglück, hieß es noch vor wenigen Jahrzehnten. Und die unbeliebteste Minderheit in ganz Europa sind Sinti und Roma immer noch.

Derzeit werden andere als einst die Juden zu Feinden gemacht: Muslime gelten vielen als gefährlich, unerwünscht, nicht integrierbar, kriminell. Daran sei ihre Religion schuld, wird von denen behauptet, die den Antisemiten nachfolgten. Festzuhalten bleibt, dass von den heutigen „Islamkritikern“ dieselben Vorwürfe gegen Muslime erhoben werden, wie sie einst die Antisemiten den Juden machten. Das sollte uns zu denken geben. Den Juden hielt man vor, sie wollten die Herrschaft über alle haben, das gebiete ihre Religion, sie müssten Nichtjuden betrügen, auch das sei religiöses Gebot. Aus solchen Konstrukten entwickelte sich der jahrhundertelange Hass. Heute wird Muslimen ähnliches unterstellt. Man hasst sie, weil sie Muslime sind, wie man Juden hasste, weil sie Juden waren. Wir müssen die zentrale Erkenntnis beherzigen, dass die Diskriminierung von Minderheiten nicht auf deren Eigenschaften oder Verhalten beruht, sondern auf dem Beschluss der Mehrheit, die Feinde braucht. Wir müssen lernen, dass die Methoden der Diskriminierung von einer Minderheit auf eine beliebige andere übertragen werden können. Wenn wir diese Erkenntnis verweigern, dann hat das Erinnern und Gedenken an Ereignisse wie die Novemberpogrome, an das Menschheitsverbrechen des Holocaust, das mit der Diskriminierung begann und als Völkermord endete, nur begrenzten Wert. Wir müssen den Tag des Erinnerns an die Befreiung von Auschwitz nutzen, um die Opfer zu ehren und wir müssen ihn nutzen, uns vor der Wiederholung von Fehlern zu bewahren. NS-Herrschaft und ihre Ideologie muss auch weiterhin erklärt und erinnert werden – und dies sogar künftig noch mehr als früher (Politiker begnügen sich in martialischer und zunehmend sinnentleerter „Nie wieder!“ – Rhetorik). Das Credo der Aufklärung heißt nicht nur Information und Faktenwissen statt Legendenglaube und Mythentransport, sondern auch politische und moralische Nutzanwendung über die Rituale des Erinnerns und Gedenkens hinaus.