Archiv 2016

Wenn Ritter und Wölfe husten und niesen (Dezember 2016)

Früher war das Leben eines Ritters geklärt. Da wurden Drachen bekämpft und Turniere geritten. An diese Zeiten denkt Ritter Hedebald gerne zurück. Jetzt aber sitzt er trübsinnig in seiner Kammer, sein Schild lehnt an der Wand, das Schwert steckt im kupfernen Siedetopf und unter dem offenen Visier seines Helms sitzt eine Hausmaus. Er sehnt sich nach Abenteuern und Herausforderungen. Seine Burg bröselt und es zieht immer mehr durch die Ritzen, deshalb strickt er sich derzeit erst mal warme Socken, braut sich stärkende Tees und heilende „Trünke“. In seinem Garten sammelt er, gut geschützt durch seine eisernen Ritterhandschuhe, Hagebutten und Brennnesseln, dazu außerdem noch: gelbe Kamillenblüten und Efeublätter, wohlriechende Minze und Mispeln. Just in dem Moment als er einen Trunk gegen kalte Füße braut, ruft das Abenteuer. Im Dorf treibt ein Wolf sein Unwesen und pustet die Hütten der Bauern einfach um. In frisch polierter Rüstung reitet Hedebald ins halb verwüstete Dorf und legt sich auf die Lauer. Bald hört er ein mächtiges Schnaufen, und plötzlich steht er dem Ungeheuer gegenüber. Mit viel ritterlichem Gedöns verkündet Hedebald dem erstaunten Wolf, dass sein letztes Stündchen geschlagen hat. Der aber bestreitet, die Hütten zerstört zu haben und es gibt eine ziemliche Zankerei zwischen den beiden Streithähnen, bis sich schließlich der Grund des ganzen Übels zeigt: der Wolf hat eine tierische Erkältung. Sein gewaltiges Niesen und sein krachender Husten sind der Grund, dass die Dächer davonfliegen und Türen und Fenster bersten. Unser Held aber will nicht gegen einen kranken Wolf antreten, das verbietet ihm seine Kampfesehre; schließlich weiß er ja wie schnell man sich erkälten kann.
Und so schleppt er den kranken Wolf mit auf seine Burg, braut ihm einen kräftigen Hustensaft und sitzt mit ihm am wärmenden Feuer. Nach drei Tagen verlässt der Wolf die Burg: gesund und mit einem Saft gegen kalte Füße, gebraut vom hochwohlgeborenen Ritter Hebestreit Degenhart Fronibald Wolkenbruch von Wolkenstein!
Mit viel Humor erzählen Text und Bild die Geschichte über den Alltag des mutigen, kräutersinnigen Ritters Hedebald. Detailreiche Zeichnungen und dialogintensive Textpassagen sorgen für kurzweiligen Bildlese- und Vorlesespass. Ein unterhaltsames Buch über typische Tücken der Winterzeit, das zeigt wie ein ritterlich-heldenhafter und zugleich gelassener Kampf für die Gesundheit gelebt werden kann.

▪ Auch Ritter erleben die Herausforderungen der Sprache: Hedebald trägt einen hochherrschaftlichen Namen: Hebestreit Degenhart Fronibald Wolkenbruch von Wolkenstein – ein ziemlich altes Rittergeblüt… Niemand kann seinen Namen richtig behalten oder aussprechen. Deshalb dürfen alle Hedebald zu ihm sagen.
Mit Hedebalds Adelsnamen lassen sich unterhaltsame Silbenspiele gestalten: den Namen in Silben aufteilen, schreiben und die Silbenschnipsel in veränderter Abfolge zusammenfügen und die so immer neu entstehenden Namensvarianten vorlesen. Zusätzlich können neue Namen für Ritter erfunden werden. Zu den erfunden Namen werden Wappen entwickelt und auf Schilder gezeichnet.

▪ „Für alles ist ein Kraut gewachsen“- Hedebalds Leidenschaft für Kräuter gibt Anlass, die Heilkräfte der Natur zu thematisieren, eine kleine Kräuterkiste zusammenzustellen und die Namen von Heilpflanzen kennenzulernen. Kräuter mit geringer Heilwirkung, wie milde Brombeer- und Himbeerblätter, sind eine gute Grundlage für einen Ritter-Hedebald-Tee, der am besten schmeckt, wenn man ihn beim Vorlesen oder beim Selberspielen der Geschichte trinkt.
Für die Mischung wird eine Dose oder ein Glas mit einem Ritter-Schild beklebt, das Hedebald und den Wolf im Wappen zeigt.

▪ Ritter Hedebald ist ein wunderbarer Edelmann, der zeigt wie mit Rollenklischees gespielt werden kann. Ritter und Wolfsretter, Kräuterfrau und Pflegerin, das sind seine männlichen und weiblichen Anteile in einer Person. Dass Heldenmut gewisse Ängste und Befürchtungen miteinschließen darf, zeigt sich im abenteuerlichen Zusammentreffen mit dem Wolf.

▪ Und zu guter Letzt ein Schnupfengedicht, von Christian Morgenstern: für Wölfe, Ritter und andere kranke Menschen:

Der Schnupfen
Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,
auf daß er sich ein Opfer fasse
- und stürzt alsbald mit großem Grimm
auf einen Menschen namens Schrimm.
Paul Schrimm erwidert prompt: „Pitschü!“
und hat ihn drauf bis Montag früh.
 
Bestens macht sich dieses Gedicht, schriftlich festgehalten, auf einem Stofftaschentuch oder auf einer Packung Papiertaschentücher.

Oskar Abendrot/Isabell Grosse Holtforth: Ritter Hedebald und der Wolf
München: Knesebeck2015, 32 Seiten | € 12,95 | ab 4

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Bestrickendes Abenteuer mit Ziege … (November 2016)

Was weiß man über Ziegen? Sie sind Wiederkäuer, Paarhufer und gehörnt. Als echte Kletterkünstler streben sie immer nach oben, betrachten die Welt neugierig mit ihren balkenförmigen Pupillen und sind oft unberechenbar. Und manche Ziegen können auch stricken. So wie Schneewittchen, eine Ziege, weiß wie frischgefallener Schnee. Normalerweise strickt sie Socken, heute aber ist ihr nicht danach, heute strickt sie lieber ein paar Ziegenkinder; tick, tick, tick - ein Geislein nach dem anderen hüpft ihr von der Stricknadel und springt frischvergnügt im Zimmer umher. In diese Idylle platzt Frau Schaf und behauptet dreist, dass Ziegenwolle doch nichts taugt und dass sie „viiieeel viiieeel“ besser und schöner und schneller stricken kann. Schneewittchen schaut verstört und verliert bei so viel Dreistigkeit den Faden. Abgelenkt strickt sie zornig klappernd weiter. Der Wolf, der ihr dabei von der Nadel springt, frisst Frau Schaf und fast auch sie, sodass sie schnell, im Schrank versteckt, einen Tiger strickt, der den Wolf auffrisst und nun lauernd vor ihrem Wollschrank liegt. Im Dunkel ihres Schrankes strickt sie, eins links, ein rechts, ihre Rettung: ein braunes gehörntes Monster, das den Tiger mit Haut und Haaren verschlingt. Phantastisch - aber so kann es ja nicht weitergehen, dieser Verkettung muss Einhalt geboten werden. Und Schneewittchen, die kluge Ziege, sorgt selbst für die Auflösung: Ratz fatz ribbelt sie ihr Gestricktes auf und macht die Sache rückgängig. Die zitternde Frau Schaf bedankt sich unterwürfig bei der weißen Ziegenfrau, die in einem Berg Wolle vor ihr steht und mutig, keck, ritsch-ratsch noch den Wolfskopf aufribbelt. Tja, wenn die Not groß ist und man die Geister nicht ruft, sondern selber strickt, dann wird man sie auch wieder los – als strickende Zauberziege eben, die zeigt: die Problemlösung der Geschichte liegt in der Masche. Und wie Schneewittchen sollte man wissen: In der größten Not, bitte niemals ein gestricktes Tier abketten, sonst klappt die listige Rettung nicht.

Es liegt ja auf der Hand, dass nach derartigen Herausforderungen Entspannung angesagt ist. Und so sitzt Schneewittchen mit klappernden Nadeln oben auf ihrer Klappleiter und strickt. Nach was Grasgrünem zum Fressen steht ihr der Sinn. Aber Ziegen chillen eben nicht, und so verstrickt sich der phantastisch starke Wollfaden nicht zum Grashalm, sondern zum nächsten vielversprechenden Abenteuer…
So ganz nach dem Geschmack der Kinder entspinnt sich hier eine fantasievolle und dramatische Geschichte. Die tierischen Verstrickungen sorgen für unbändige Spannung in der leicht märchenhaft anmutenden Wohnumgebung von Schneewittchen. Die Zeichnungen sind von einer großen Leichtigkeit, der Einsatz der Farben baut die Spannung mit auf. Schneewittchen kommt in dynamisch lockerem Federstrich daher. Er wirkt einfach, spricht aber stark, wenn sich bei Schneewittchen in bester Körpersprachlichkeit und Mimik beispielsweise höchste Zufriedenheit oder schauderliches Grauen zeigen.
Erzählt wird in einfacher klarer Sprache, angereichert mit lautmalerischen Sprengseln. Solche „Ticke-ticke-tick“- und „Ritsch-ratsch“-Interjektionen sind das Salz in der Suppe beim Vorlesen. In Verbindung mit der gelungenen Dramaturgie halten sie auch die Kinder, die sich beim Zuhören nicht in der höchsten Aufmerksamkeitsleistung befinden, bei der Stange.
Dass Schneewittchen so beiläufig gewitzt den roten Faden der Geschichte kettet und löst, macht dieses Buch zu einem bestrickend schönen Abenteuer für fantasieliebende Kinder und zu einem großen Vorlesevergnügen für Erwachsene.

Anregungen zur Anschlusskommunikation

▪ Das Strickstück, das Schneewittchen im bildlich offenen Ende der Geschichte produziert, kann der Beginn einer neuen, selbst ausgedachten Geschichte sein.
▪ Die lautmalerischen Sequenzen laden ein, zu einem rhythmischen Silbengedicht verstrickt zu werden.
▪ Eine Strickrunde ergibt nicht nur Einsichten in die eigene Herstellung von Gestricktem, sondern bietet sich auch für den Erwerb semantisch lexikalischer Fähigkeiten an. Dabei gilt es, ein interessantes Wortfeld zu erobern: Strickanleitung, Strickmuster, Stricknadeln, Maschen, eine rechts eine links, verschiedene Wollarten und ihre Eigenschaften, spezielle Verben wie abketten, aufnehmen oder rundstricken. Kinder können sich eigene Strickstücke mit der Strickliesel oder durch Fingerstricken herstellen – aus diesen selbstgestrickten Fäden entsteht vielleicht auch ein neues „Strickmonster“…

Annemarie van Haeringen: Schneewittchen strickt ein Monster Stuttgart: Freies Geistesleben 2016, 24 Seiten | € 15,90 | ab 5

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

60 Jahre und taufrisch: der Deutsche Jugendliteraturpreis (Oktober 2016)

Kinder wollen Geschichten hören. Nicht unbedingt um zu lernen, sondern um sich wohlzufühlen.  Dieses Wohlgefühl sichert den Einstieg in die Literatur und sorgt meistens dafür, dass ein Kind, wenn es später selbst lesen kann, freiwillig zu Geschichten in Büchern greift, und nicht fragt: „Muss ich schon wieder lesen?“
Um sich in Büchern wohlfühlen zu können braucht es das Zusammentreffen mit Inhalten, die dem jeweiligen biographischen Lebensabschnitt entsprechen und qualitativ überzeugend sind. Welche Kinder- und Jugendbücher für wen geeignet sind, darüber informiert der Deutsche  Jugendliteraturpreis, ein Staatspreis für Literatur, der seit 1956 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gestiftet und jährlich verliehen wird. Er sorgt dafür, dass die Öffentlichkeit, insbesondere Eltern und alle Vermittlerinnen und Vermittler, auf wichtige Neuerscheinungen der Literatur für Kinder und Jugendliche hingewiesen werden.

In seiner Präambel ist formuliert: „Der Deutsche Jugendliteraturpreis soll die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur fördern, das öffentliche Interesse an ihr wach halten und zur Diskussion herausfordern. Mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis werden jährlich herausragende Werke der Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet. Dadurch sollen Kinder und Jugendliche zur Begegnung und Auseinandersetzung mit Literatur angeregt werden.“*
Jedes Jahr vergibt eine Kritikerjury, bestehend aus neun erwachsenen Juroren, den Deutschen Jugendliteraturpreis in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch. Eine unabhängige Jugendjury verleiht den Preis der Jugendjury. Die Jurys sichten die Bücher, die im Vorjahr produziert wurden, und nominieren davon sechs Titel pro Sparte. Die Nominierungsliste wird auf der Buchmesse in Leipzig bekannt gegeben, die Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises werden im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse verkündet.
1956 erhielt „Der glückliche Löwe“ von Louise Fatio und Roger Duvoisin den ersten Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Bilderbuch. Ein Buch, in dem wir erleben, dass Vorurteile oder Klischeegedanken schlechte Berater für eine Freundschaft sind. Im vergangenen Jahr wurde das im Aladin Verlag erschienene Bilderbuch „Herr Schnuffels“ von David Wiesner preisgekrönt. „Herr Schnuffels“, seines Zeichens ein schwarzer Kater, ist in Abenteuer mit sehr besonderen Außerirdischen verwickelt, die ein eigenes, interessantes Zeichensystem anwenden. Ein anregendes Bilderbuch, das sich Kindertageseinrichtungen gönnen sollten, die Wert auf ein gepflegtes Literacy-Klima legen. Am Freitag, dem 21. Oktober 2016, werden die diesjährigen Sieger verkündet, und ab dann werden wir auch den neuen Preisträger der Sparte Bilderbuch kennen.
 
Das diesjährige Jubiläum des Deutschen Jugendliteraturpreises wird von einigen Verlagen mit besonderen Buchausgaben gewürdigt.
Für Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren ist eine Serie* interessant, die prämierte Bilderbücher im beliebten und preisgünstigen Pixi-Format herausgebracht hat. Unter den acht Titeln finden sich beispielsweise die beliebten „Mausemärchen“ von Annegert Fuchshuber,  das raffinierte „Eins zwei drei Tier“ von Nadja Budde oder die Streithähne aus „Du hast angefangen! Nein du!“ von David McKee. In Anne Möllers „Nester bauen, Höhlen knabbern“ erfahren wir wie Insekten für ihre Kinder sorgen, „Die Wichtelmänner“ illustrieren ein Märchen der Gebrüder Grimm, und Jutta Bauers „Schreimutter“ vermittelt eindrucksvoll was in einem Kind vor sich geht, das angeschrien wird. „Du groß und ich klein“ von Grégoire Solotareff erzählt farbstark und gefühlsvoll eine wechselhafte Freundschaftsgeschichte, und auch „Der glückliche Löwe“ zeigt sich 60 Jahre nach seiner Prämierung im typischen 10x10 Zentimeter-Format.
Somit ist diese Jubiläumsserie, ein Bündel kleiner, ganz großer Bilderbücher, die jede Kita-Bibliothek bereichern werden. 
Pixi, das Taschenbuch fürs Kind, feierte selbst vor zwei Jahren seinen sechzigsten Geburtstag. Seit dem Erscheinen des ersten Pixi-Buches im Jahr 1954 sind in Deutschland über 460 Millionen Exemplare verkauft worden und somit gehören die Pixi-Bücher zu den ersten literarischen Erfahrungen vieler Kinder und auch ihrer Eltern. Diese gemeinsamen Leseerfahrungen verbinden und motivieren Eltern, mit ihren Kindern in Geschichten einzutauchen. Ein Grund mehr dieser Serie die Beachtung zu schenken, die sie verdient hat, und dafür zu sorgen, dass die anspruchsvollen Titel dieser Jubiläumsausgabe in möglichst viele Kinderhände gelangen…

* Informationen und eine Datenbank, in der die seit 1956 gekürten 2800 Preisbücher in einer Datenbank erschlossen sind, unter: www.djlp.jugendliteratur.org
 
* Preisgekrönte Bilderbücher, 8 Einzeltitel = Pixiserie 239 |Hamburg: Carlsen Verlag, 2016, je 24 Seiten|Einzeltitel 0,99 Euro

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Es ist zum Eulen… (September 2016)

Nichts, nichts - was auch geschieht, der kleinen Eule kommen einfach keine Tränen. Keine Tränen der Erleichterung, keine Tränen vor Stolz und auch keine Tränen der Rührung. In der Familie liegt es nicht. Die Mutter ist bekannt für viel Geschrei, die Geschwister weinen vom ersten Augenblick ihres Daseins. Nur die kleine Eule mit den riesigen Augen kann nicht weinen. Auch nicht im Zank mit den Geschwistern und schon gar nicht ausgestoßen, mutterseelenalleine im Regen. Dieses Unvermögen spricht sich natürlich im Wald herum, man tratscht in den Bäumen und bald weiß ein jeder: „Die kleine Eulsuse eult nicht!“

Dass dieses vermeintliche Zeichen der Stärke aber verletzlich macht, zeigt sich auch im Eulenleben: Wer nicht weint wird von der Katze gefressen, wer viel weint den verschont sie vielleicht aus Mitleid. Und so fließen in Eulennestern besonders viele Tränen wenn kleine rosarote, nackte und schutzlose Eulenkinder drin sitzen. Die Euleneltern wenden Erziehungstricks und Zwiebeln an, aber keine einzige Träne fließt. So beschließt man das unglückliche kleine Wesen fortzuschicken. In der Fremde versucht die kleine Eule zu heulen vor Heimweh, aus Wut, aber sie weint nicht. Nicht einmal als sie denkt, dass sie jetzt vielleicht sterben wird, kann sie eine Träne weinen. Aber Familienbande sind fest und vier Schatten nähern sich dem Abgrund, an dem die kleine Eule sitzt. „Komm nach Hause!“ sagt der Vater, die Mutter bezeugt ihre Liebe, und die Eulsusengeschwister wollen liebend gerne zu dritt sein. Anderssein verstehen und akzeptieren bringt so viel Glück, dass Familie Eule ein neues Spiel pflegt, dessen Regeln heißen. „Wer zuerst eult, hat verloren.“

Martin Baltscheit, nicht nur als Autor und Zeichner gleichermaßen begnadet, sondern auch als Sprecher, Regisseur und Schauspieler erlebenswert, widmet sich mit Witz und Ernsthaftigkeit der Frage: darf man heulen, muss man heulen oder lieber doch nicht? Mit vielen Facetten wird dieses emotionale Ausdrucksvermögen ins Bild gesetzt, mit rollend aufgerissenen, erstaunten und blinkenden Eulenaugen, wie es ein Bilderbuch um das Weinen und die Tränen braucht.

Der Illustrationsstil ist alles andere als süßlich, und die Eulenkinder kommen genauso gerupft und kantig wie liebevoll und anrührend daher, wie es einem Bilderbuch über starke Gefühle ansteht. Und so ist diese Parabel übers eulen oder nicht eulen ein äußerst dialogschaffendes Bilderbuch. Mutmaßlich werden es Kinde nicht in seiner ganzen Dichte und Tiefe durchdringen, aber wer ernsthaft gerne mit Kindern liest, weiß, dass ihnen inhaltliche fünf Zentimeter Luft nach oben nie schaden konnten… Das Gegenteil ist der Fall, denn nur mit einer solchen „Zumutung“ im positiven Sinne können Kinder auch wachsen.

Tränen sind das Salz dieser Erde und deswegen ist „Eul doch!“ eine nicht nur lebensnotwendige Aufforderung, die Kinder in ihrer Entwicklung ernst nimmt, sondern auch eine literarische Hilfe groß zu werden. Geht es doch in der parabelhaften Geschichte darum, Gefühle und Selbstbewusstsein zu leben, Vorurteile aufzubrechen und letztendlich eigenes Verhalten und Erwarten neu zu denken.

Anregungen zur Anschlusskommunikation

  • Martin Baltscheit hat die tränenreiche Geschichte auch in einer wunderbaren Hör-Inszenierung auf Audio-CD gesprochen, bei der die Musik und die Geräusche der Geschichte eine ganz besondere Stimmung verleihen. Mit seiner ausentwickelten Sprechweise zeigt er in den insgesamt sieben Geschichten der CD, welch kreativer Umgang mit der Sprache und dem Sprechen möglich ist. Ein Hörgenuss, der Kinder und Erwachsene beflügelt, ihre sprachlichen Mittel spielerisch und bewusst einzusetzen.
  • Der Sprachgestalt bewusst zu werden erfordert, dass Kinder ihre Aufmerksamkeit nicht dem Inhalt, sondern der Gestalt der Sprache zuwenden. Dazu gehört auch, dass sie den Klang der Sprache genießen und das Lautsystem der Sprache spielerisch erobern. Das Sprachspiel ums Eulen und Heulen bietet sprachanalytischen Gesprächsanlass. Was passiert wenn man Anfangslaute weglässt? Dann wird eben aus heulen eulen, aus Brot wird Rot und Reis kann sich in Eis verwandeln.
  • Unter www.carlsen.de/bilderbuchkino stehen Ihnen einige ausgewählte Illustrationen aus dem Buch als PDF zur Verfügung. Die multimediale Aufbereitung der Geschichte ermöglicht Ihnen ein methodisch und sprachlich vielfältiges und sinnenvolles Anknüpfen an die Geschichte und den starken Charakter der kleinen Eulsuse.

Martin Baltscheit: Eul doch!
Bilderbuch:
Hamburg: Carlsen 2016, 48 Seiten | 14,99 Euro | ab 5 Jahren
Audio-CD:
Hamburg: Silberfisch 2016, 49 Minuten | 12,99 Euro | ab 5-6 Jahren

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Zwiesprache und Spaß mit zwei ungeheuerlichen Monstern (August 2016)

Vorhang auf: ein grünes breitmäuliges Elefantenzahn-Monster steht vor einer riesigen, mit dem Aufdruck „Danger“ versehenen Holzkiste und prophezeit einer Menschenmenge in bester Marktschreiermanie: „Gleich werden Sie vor Angst zittern und schreien!“ Die verriegelte Front der Kiste bricht auf und: „Tadaa: Da ist es!“ Rot, dreischwänzig und riesengroß brüllt es mit erhobenen Klauen “Wuaaaahh, ich bin das schrecklichste Monster der Welt!“ - und alle flüchten. Nur einer rennt nicht weg, sondern guckt gebannt auf die Bilderbuchseite: das ist das Kind, mit dem Sie das Buch anschauen werden.

Das etwas dödelig dreinblickende rote Monster deutet mit seiner Kralle auf das Leserkind und fragt: “Warum bist du nicht weggerannt? Hast du keine Angst vor mir?“
Und ab sofort beginnt das Bemühen der zwei Monster, dem Bilderbuchkind mit allen Mitteln der Kunst Angst und Schrecken einzujagen. In interaktiver Weise, in allerschönsten Dialogen lassen Rot und Grün nichts aus, was dem dienlich sein könnte. Die ganze Palette muss herhalten: ob Angstschatten, merkwürdige Lautmalereien, Gespenster spielen auf nachtschwarzen Buchseiten oder Grimassenschneiden – nichts lassen die Zwei aus. Aber auch ihr Verschwinden aus dem Buch mit der Folge, dass das umfangreiche Monsterwerk auch einige gänzlich weiße Seiten aufzeigt, führt zu nichts.

Ihre Erkenntnis, dass Kinder Geschichten lieben, schafft noch eine Geschichte in der Geschichte samt spannender Monstereinfälle, die leider auch nichts nutzen. Das Kind hat eben keine Angst, daran ändert auch die Verstärkung durch noch mehr Monster nichts. Schließlich wird das Kind aufgefordert, die Monster zu erschrecken. Und so kommt es wie es kommen muss – die Kinder legen sich ins Zeug, werden wild und gefährlich und Rot und Grün geben klein bei, und verneigen sich vor den Bilderbuchlesern - was dazu führt, dass der grandiose Spaß wieder von vorne beginnen kann. Dass das der kindlichen Wiederholungslust mehr als entgegen kommt ist klar.

Folgerichtig kann aus diesem Buch, das die Bilderbuchleser als handelnde Akteure miteinbezieht und ein literarisches Wohlgefühl der besonderen Art verschafft, sicherlich ein schrecklich monströses Lieblingsbuch der Kinder werden. Es ist ein virtuoser Coup der zwei Bilderbuchmacher Hans- Christian Schmidt und Andreas Német, denen es immer wieder gelingt, besonders bewegte Literaturerlebnisse für Anfänger zu produzieren. Mit Mut und Ideen sind Ängste zu überwinden und Monster in den Griff zu bekommen, das ist die überzeugende Botschaft der ausdrucksstarken Bilder. Diese Bilder transportieren die Atmosphäre des Surrealen und lassen die Herausforderung der teilweise begeisternd chaotischen Situationen in expressiver Dynamik und Bewegtheit erspüren.

Die Monster sind originelle und skurrile Wesen, sie bestechen mit lebendiger Mimik und Körpersprache. In der pfiffigen, interaktiv angelegten Geschichte erlebt das Leserkind vergnüglichen und unterhaltsamen Stoff zum Bespielen eigener Befürchtungen und Ängste. Das gibt die Möglichkeit, selbstbewusst die Lösung für das Angstproblem selbst in die Hand zu nehmen. So vermittelt die Geschichte, die zuerst einmal vom Konflikt mit der Angst lebt, ein Ende ohne Schrecken und schafft gewaltig vergnügliche Erlebnisse in unterhaltsamer Leichtigkeit.

Anregungen zur Anschlusskommunikation

  • Monster sind für Kinder ein animierendes Thema, denn jeder kennt andere Erscheinungsarten und hat eigene Erfahrungen und Einschätzungen. Die lautmalerische Ebene der Monstersprache bietet sich wunderbar an, die Sprechfreude der Kinder anzuregen. Die Vorleserin ist natürlich gefordert, Lautverbindungen wie „Aaarrghh“ und „Krkkrk“ oder „Blurggh“ und „Wuaah“ animierend expressiv zu gestalten. Da die Kinder explizit aufgefordert werden, die Monster zu erschrecken, ist die Sprachproduktion so gut wie gesichert. Reichlich Spaß haben sie, wenn ihre selbstersonnene lautmalerische Geräuschkulisse digital festgehalten und damit immer wieder abspielbar wird. Kreativ wird es, wenn man damit eine Geräuschproduktion verbindet. Schaurige Geräusche kennt man ja zur Genüge: Flattern und ächzen, heulen und scheppern, rascheln und wimmern, knacken und knistern...
    Was fehlt noch? Natürlich: voila, einige monstermäßige Geräuschrezepte:
    - Heulschläuche durch die Luft wirbeln = Gespenstergeheule
    - einseitig mit Sandpapier beklebte Holzbrettchen aneinander reiben =leises Scharren
    - mit einer Pappröhre in einen Eimer sprechen = hallende Stimme
    - in eine Flasche blasen = schaurige Töne
  • Beamer oder Dia-Projektoren lassen sich optimal zum Schattenspielen nutzen: ein Laken wird von hinten angestrahlt und die Kinder spielen zwischen Projektor und Laken. Zum Erschrecken des Roten und Grünen Monsters können kreative Schattenumrisse gestaltet werden. Verbunden mit der mit der schaurigen Geräusch- und Lautproduktion ergibt sich so leicht eine lautlustige Monster-Performance, die den Zweien aus dem Buch das Fürchten lehren wird.

Andreas Német / Hans-Christian Schmidt: Das schrecklichste Monster der Welt.
Frankfurt: Moritz Verlag, 2016, 96 Seiten| € 14,95 | ab 4

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Wie eine märchenhafte Viererbande Zusammengehörigkeit lebt (Juli 2016)

„Ich Esel kann die Laute schlagen: Ja plonga plonga plomm.
Ich Hund will´s mit der Pauke wagen: Rabau rabau rabomm.
Ich Katze kann den Bogen führen: Miau miau mihie.
Ich Hahn will mit Gesang mich rühren: Kokürikürikie.
So kamen sie denn überein, sie wollten Musikanten sein
und könnten´s wohl auf Erden zuerst in Bremen werden.“

Unschwer ist auch in dieser lyrischen Aufstellung von Manfred Hausmann zu erkennen, um welches Märchen es sich handelt.
Die Bremer Stadtmusikanten, die sich hochbetagt eine bessere Welt organisieren und gemeinsam mit Mut und Raffinesse gefährliche Räuber in Schach halten, gehört zu den populärsten Volksmärchen der Gebrüder Grimm. Sicherlich liegt das daran, dass Esel, Hund, Katze und Hahn nicht nur eine Todesgefahr überwinden, sondern auch ihre individuellen Kräfte einbringen um gemeinsam ihr Ziel zu erreichen. Von Anfang bis zum Ende sind die Vier eine Gemeinschaft, die aus der Gewissheit heraus handelt, gemeinsam sicherer in der Welt zu stehen als alleine.

So fremd die Gegebenheiten vieler Märchen sind, so altertümlich die Sprache klingt, in der von ihnen erzählt wird, scheint es doch eine enge Beziehung zu geben zwischen dem Märchengeschehen und dem Seelenleben von Kindern – und nicht nur von Kindern. Albert Einstein vertrat die Ansicht: „Wenn Sie möchten, dass ihre Kinder intelligent werden, dann erzählen Sie ihnen Märchen. Wenn Sie möchten, dass sie hochintelligent werden, erzählen Sie Ihnen noch mehr Märchen.“

Obwohl Märchen der Phantasie und dem Gerechtigkeitsbedürfnis von Kindern entsprechen wird immer wieder die Frage gestellt, ob Kinder Märchen brauchen. Bruno Bettelheim bejaht diese Frage und meint dazu: „Mythen und Märchen beantworten die ewigen Fragen: Wie ist das Leben wirklich? Wie soll ich darin leben? Wie kann ich mich selbst sein? Das Märchen überlässt es der Phantasie des Kindes, ob und wie es das, was die Geschichte vom Leben erzählt, auf sich selbst bezieht.“ Die oft drastisch dargestellten Abbilder von Gut und Böse, die als Modell für eine wichtige Unterscheidung dienen, verunsichern manchen Erwachsenen. Aber Märchen sind niemals konkrete Handlungsanweisungen sondern bildhafte Geschichten für menschliche Handlungen.

Mit ihrer klaren Struktur von Situationsbeschreibung, Konflikt- und Handlungsteil mit gutem Ausgang und einem überschaubaren Figurenpersonal gehören die Bremer Stadtmusikanten meist zu den ersten Märchen, denen Kinder begegnen und die ihnen Zugang zur Literatur und Erzählkultur schaffen.

Gerda Muller hat das 1819 von den Gebrüdern Grimm aufgeschriebene Märchen neu illustriert. Ihre doppelseitigen Bilder greifen die Bedeutung der Landschaft im Märchen auf, die ja immer auch als Kulisse der dramaturgischen Handlung dient. Die von ihr geschaffene Natur besticht durch ihre realistische Detailfreude und Vielgestaltigkeit. Da spielt auch die Katze gerne, altersgemäß nicht mehr mit der Maus sondern lieber mit einer Weinbergschnecke, und der gestohlene Festschmaus der Räuberbande gleicht einem delikaten Picknick. Von der Kopfweide über die Eiche bis zur Fichte, von der Scharfgarbe über die Brombeerhecke zur Distel: wem der Sinn danach steht, kann die märchenhafte Vielfalt der Botanik und Landschaftsgestaltung nicht nur genießen sondern auch bestimmen. In der außergewöhnlich harmonischen Farbgebung der Bildtafeln kommen der Hahn und die drei Felltiere haargenau bis kuschelig daher und verstärken den nostalgischen Charakter der warmherzigen Illustrationen. Dadurch schafft Gerda Mullers Viererbande märchenhafte Bildkräfte, wenn sich alle zusammenfinden und es wieder heißt „Es war einmal…“

Anmerkungen

  • Märchen sind ursprüngliche Erzählliteratur und sprechen die Sprache ihrer Zeit. Für dieses Buch wurde der Text der Bremer Stadtmusikanten bearbeitet. Beispielswiese wurde die für dieses Märchen charakteristischen Dialogabfassung von Esel und Hahn „…etwas Besseres als den Tod findest du überall…“ durch die Formulierung „ …um ein besseres Ziel als den Tod zu haben.“ ersetzt. Wer den Originaltext der bearbeiteten Version vorzieht, kann diesen unschwer anhand von Gerda Mullers wunderbaren Bildtafeln aufteilen und zuordnen.
  • Gerda Muller wurde im Februar dieses Jahres 90 Jahre alt und gilt als die „Grand Dame der lllustration“. Dass sie nach über 160 illustrierten Büchern nicht ans Aufhören denkt, ist außerordentlich erfreulich. Da ihre kunstvollen Illustrationen immer Wert sind entdeckt zu werden, sei an dieser Stelle auf zwei weitere ihrer Werke verwiesen: Wer Kinder in der Entwicklung ihrer Erzählkompetenz unterstützen möchte oder gerne mit Kindern gärtnert, wird in ihrem bekannten textfreien Spurenbilderbuch „Was war hier bloß los?“ und auch mit „Was wächst denn da? Ein Jahr in Opas Garten“ weitere Bücherschätze für eine wohlsortierte Kita-Bibliothek finden.

Gerda Muller: Die Bremer Stadtmusikanten. Erzählt nach den Brüdern Grimm
Frankfurt: Moritz Verlag, 2016, 32 Seiten| € 13,95 | ab 4

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Von Tieren, die erst abends munter werden (Juni 2016)

Karminbär, Mondvogel, Roseneule, Weinschwärmer. Wer heißt denn so und wie lernt man diese Wesen kennen? Wo leben sie, wie trifft man sie? Fast poetisch und traumverloren klingen diese Namen. Was sich wunderbar zum Nachsinnen anhört ist in der Tierwelt zu Hause, verfügt über wohlgestaltete Flügel und ist am Waldrand oder unter der Straßenlaterne um die Ecke zu finden. Allerdings nur, wenn sich der Tag verabschiedet hat und die Nacht kommt. Deshalb sind in diesem Bilderbuch alle Seiten schwarz, denn zu bestaunen ist die faszinierende Welt nachtaktiver Lebewesen. Nachtfalter gehören zu dieser Spezies, aber auch Fledermäuse und Schleiereulen, Siebenschläfer und die Nachtigall können wir auf ihren Streifzügen durch die Dunkelheit begleiten und erfahren wissenswerte Sachinformationen über die Tiere der Nacht. Wildschweine, Eulen und Iltis ernähren sich von Mäusen, die Rohrdommel, die sich perfekt im Schilf tarnen kann, bevorzugt Schlangen und Frösche. Der Fischotter frisst seine Beute am Ufer, der Dachs stöbert überall etwas zum Fressen auf. Die Biber bauen sich große Wohnburgen, der Baummarder bewohnt die Höhlen alter Bäume oder die verlassenen Nester von Krähen und Eichhörnchen.

Neben den großformatigen Abbildungen der Tiere vervollständigen detaillierte Zeichnungen wie Fußabdrücke, Nahrung oder Behausung die Sachinformationen zu dem jeweiligen Tier. Optisch dominiert das Schwarz der Nacht und darin setzen die leuchtenden Abbildungen der Tiere kontrastierende Akzente. Tipps wie man nachtaktive Tiere beobachten kann und ein Register ergänzen die in Feld und Wiese, Wald und See, Garten und Stadt eingeteilten Lebensräume der Tiere.

Dieses Sachbuch besticht durch ein schlüssiges Zusammenspiel von Text und Bild und einem interessanten und äußerst angenehm anzuschauenden Layout. Es lädt ein zu einer geheimnisvollen Reise im Mondlicht, regt an zum Staunen und Fragen und visualisiert den Lebensraum nachtaktiver Tiere. Ein wunderschönes ästhetisch gestaltetes Sachbilderbuch, in dem sich Kinder mit der Welt der Nachttiere vertraut machen können.

In der sprachlichen Bildung und Sprachförderung geht es um einen allgemeinsprachlichen Wortschatz. Aber auch Kinder wollen über die Welt der Natur verfügen. Dazu brauchen sie Sprache. Mit ihr werden sie Herr über die Dinge. In naturkundlichen Beschreibungen gibt es reichlich Fachbegriffe, die einen „Worthof“ ausstrahlen, der Kinder faszinieren kann. So finden sich in den informierenden Texten immer wieder Wörter, die anders klingen und in Alltagsgesprächen nicht unbedingt zu finden sind. Einige Beispiele aus dem Buch von Thomas Müller: Backentaschen, Schneidezähne, Wohnburg, Unterholz, Wächterbiene, Totenkopfschwärmer, Unterschlupf, Moospolster, Einzelgänger, Trittsiegel, Platzhirsch, Flügelklatschen.

Die Kinder sammeln solche Worte. Diese werden auf Kärtchen geschrieben, ein jeweils zweites Kärtchen wird mit dem entsprechenden Bild versehen. Die Bilder und Wörter sind ein Wortschatz, der in einer „Nacht-Tier-Dose“ aufbewahrt wird.

Er dient als Impuls zur Metakommunikation darüber, dass es für ein Fachgebiet, wie das Wissen über Tiere, bestimmte Worte braucht um darüber sprechen zu können. Kinder erfahren so, dass es, um ein Experte zu sein, auch einer bestimmten Sprachkompetenz bedarf, die sich von der Umgangssprache unterscheidet.

Thomas Müller: Eule, Fuchs und Fledermaus. Tiere der Nacht. Hildesheim: Gerstenberg 2016, 64 Seiten | 16,95 Euro | ab 5

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Spiellied im Kamishibai (Mai 2016)

Kamishibai heißt so viel wie Papiertheater (kami – Papier; shibai – Theater) und meint eine besondere Art der Erzählkunst: mit Hilfe einer Kamishibai-Bühne und speziellen Bildkarten werden Geschichten vorgetragen.
In den allermeisten Fällen wird das Papiertheater zum Präsentieren von Bildgeschichten eingesetzt. Sowohl schriftlich fixierte Texte als auch frei mündlich vorgetragene Texte werden zu Bildern gesprochen. Die geringe Größe der Bühne macht den engen Kontakt von Vortragenden und Zusehenden/Zuhörenden notwendig, daher ist es naheliegend, dass diese Situation interaktiv genutzt wird und der Erzählende das Publikum in die Konstruktion der Geschichte mit einbezieht.

Auch in der  kreativen Arbeit lässt sich das Papiertheater einsetzen. Dazu werden eigene Geschichten erarbeitet, in Sequenzen aufgeteilt und dazu die Bildkarten produziert. Ebenso können selbst hergestellte Bildkarten  zu bereits vorhandenen Texten wie Geschichten, Märchen, Gedichten, und Liedern gemalt, fotografiert oder kopiert und im Kamishibai präsentiert werden. Für die Umsetzung der Texte in gemalte Bilder empfehlen sich kontrastreiche Wachsmal- oder Wasserfarben.

Mit dem Papiertheater können auch Bilderbücher präsentiert werden. Die Größe des Papiertheaters legt nahe, dass Illustrationen von Bilderbüchern, die dem  Bühnenformat des Kamishibai ähnlich sind (A4 Querformat), fotokopiert und auf festen Karton aufgebracht werden. So können sie, während der Text des Buches vorgelesen oder erzählt wird, präsentiert werden.

Das Kamishibai ist eine Methode des bildgestützten Erzählens, die vom Erleben eines Textes zur eigenen Sprache führt und sowohl die Freude am eigenen Sprechen und Erzählen als auch die Lust am Bildgestalten weckt. Das Kamishiabi ermöglicht, phantastische und kognitive Prozesse zu verbinden, und kann in der sprachlichen Bildung und Sprachförderung vielfältig sprach- und kommunikationsanregend werden.

In dem zwischenzeitlich breitgefächerten Verlagsangebot von Bildkartensets zu Märchen, religiösen und weltlichen Themen gibt es auch Bildergeschichten zu alten und neuen Liedern.

„Grün, Grün, Grün sind alle meine Kleider“ ist ein Volkslied aus dem 19.Jahrhundert und in etlichen Text- und Melodievariationen im deutschsprachigen Raum bekannt.
Einerseits ist es mit Farbsymbolik angereicherte Liebeslyrik, andererseits fungiert es als Sachtext, der Kinder Informationen über Farben, Berufe und Kleidungsstücke vermittelt. Dabei bietet das Lied die unterhaltsame Möglichkeit, bekannte Wörter und Strukturen zu diesem Thema wiederholt zu erleben und neue kennenzulernen. Das Lied lädt auch ein, neue Strophen zu kreieren und die Bilder dazu selbst zu gestalten.

Die von Eva-Maria Maywald und Diana Kohne gestalteten Bildkarten bestechen durch den gestalterischen Wechsel. Die Berufe und die bildhafte Interpretation der Zeile „Darum lieb ich alles was so grün - bzw. rot, blau, schwarz, weiß, bunt – ist“, zeigen sich in farbsatter Mischung von Illustration und Fotocollage, was dem traditionellen Lied einen erfreulichen frischen Charakter verleiht. Dass es dabei eine Feuerwehrfrau und Malerinnen gibt, offeriert was schon im Titelbild mit Förster und Försterin angedeutet ist: im wirklichen Leben kann der Schatz eben männlich oder weiblich sein…

Das schwungvoll und farbstark illustrierte Bildkartenset zeigt eindrücklich, wie eine Liedergeschichte  durch Sehen, Hören und selber Singen verstanden und lustvoll verinnerlicht wird. Es unterstützt auch Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, den Text zu erhören und zu verstehen, indem sie die Möglichkeit haben, ihn wiederholt zu erleben und im Chor nach- und mitzusprechen.

Eine schöne Art, Sprachbarrieren zu überwinden und sich mit Kindern auf den Weg zu machen, die klangvollen Seiten der Sprache singend und in bildstarken Illustrationen zu erleben.

Eva-Maria Maywald / Diana Kohne: Grün, grün, grün sind alle meine Kleider: Bildkarten für unser musikalisches Erzähltheater. Kamishibai Bildkartenset. München: Don Bosco 2016, 13 Bildkarten| € 13,95 | ab 4

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Briefträger Maus: Trari trara, die Post ist da… (April 2016)

Briefträger Maus kommt in jedes Haus, deshalb ist die Postzustellung für jedes Tier gesichert. Ob der Kunde oben im Baum, unter der Erde oder im Wasser lebt – dem rührigen Briefträger ist nichts zu weit und zu schwer. Die Pakete stapeln sich in seinem kleinen Wagen, die Briefe stecken in seiner blauen Umhängetasche, und wieder einmal zieht er frohgemut  los.

Der Bär, mit dem Bienenkorb auf dem Hausdach, bekommt einen Brief von seiner Tante. Was die wohl schreibt? Das erste Paket, das verdächtig nach Mohrrüben ausschaut, liefert er bei Familie Hase ab, die einen äußerst interessanten Dachgarten und viele Kinder hat. Die Schlange, die erwartungsvoll aus ihrem Langhaus herauslugt, kriegt heute nix - Briefträger Maus zieht erleichtert weiter. Schwindelfrei klettert er nach oben zu den Vögeln: ein klitzekleines Päckchen für den Piepmatz und wieder mal einen Brief für den reisefreudigen Zugvogel. Herr Eichhörnchen hat glücklicherweise eine ausgetüftelte Seilwindenkonstruktion, die bestens für Haselnusspakete taugt, und der Drache grillt mal schnell eine Pausenwurst für seinen Freund. Unter Wasser wird das rote Pünktchenpaket an Herrn Krake geliefert, der lesehungrig in einer Muschel liegende Fisch geht auch nicht leer aus.

So läuft die zuverlässige Postmaus durch alle Doppelbilder, die nicht nur vergnüglich zeigen was es mit dem Postwesen für Tiere auf sich hat, sondern auch irrwitzig viele Bilddetails bieten. So gibt es immer wieder Entdeckungen, die zu vielen Vermutungen Anlass geben, wie beispielsweise das Zeichen der Krone auf einem Brief in der Drachenhöhle oder das wunderbare Käsedach  des Postbotenhauses.  Immer wieder kann man schmunzeln und fühlt sich bestens unterhalten: da sitzt ein lesendes Hasenkind auf dem Klo, die Ameisen haben eine Schule und eine Babykrippe, die Pinguine eine Beschneiungsanlage und die Gämsen eine fulminante Bergstation mit Aussichtsbalkon. Dass aus dem Paket, das in den Hühnerstall geliefert, wird ein Fuchsschwanz herauslugt, ist unserem Postboten etwas unheimlich. Seine letzte Lieferung übrigens bringt er in das eigene Haus, denn da feiert jemand einen ganz besonderen Tag…

Die Geschichten dieses mit wenig Text auskommenden Buchs stecken in den heiteren Bildern. Sie sind äußerst detailfreudig und bieten reichlich unterhaltsame Sprechanlässe, lassen Vermutungen und Interpretation zu. Ihre liebevoller und humorvoller Charakter kitzelt förmlich die Schaufreude und Sprechlust heraus und vermittelt nebenbei auch Wissen über die Funktionen der Schrift. Überhaupt spielen viele Zeichensysteme eine Rolle in der Geschichte. Vom roten Kreuz auf dem Verbandskasten über eine Weltkarte im Vogelhaus bis zu Plakatanschlägen an Bäumen reicht die für Kinder besonders reizvolle Welt der Zeichen und Symbole, die sie lange vor dem abstrakteren Zeichensystem der Schrift gerne entdeckend erforschen.

Was bibliophilen Lesern besonders in Auge sticht,  ist die Bücherdichte in den tierischen Haushalten. Egal ob unter Wasser, im Maulwurfsbau oder im Hühnerhaus – überall gibt es Bücher. Die Schlange besitzt eine Bücherkommode, der Bär hat ein ansehnlich gefülltes Buchregal an der Wand hängen. Der blinde Maulwurf schmökert bei einer Tasse Kaffee, das Krokodil hockt lesend am Wohnzimmertisch und sinniert über der Lektüre, die den Titel „Tränen am Nil“ trägt.

So lassen sich zum Vorlesen und dialogischen Lesen von „Briefträger Maus“  auch bestens  die Welt der Zeichen thematisieren. Da können eigene Briefe geschrieben und in echte oder selbst gefertigte  Briefumschläge gesteckt  werden. Vielleicht an die Tiere, die Briefträger Maus beliefert, oder doch lieber einen Brief an jemand den man kennt? An die Oma, oder den Onkel, der weit weg wohnt?  Stempeln, Postschalter zu spielen, selbst Briefmarken und andere Postprodukte herzustellen oder gar auf das Postamt zu gehen und ein Paket oder einen Brief abzugeben, birgt spannende Erfahrung mit Schriftlichkeit und Kommunikationswegen. 

Auf den Internetseiten www.postundschule.de und www.stiftunglesen.de/programmbereich/schule/sekundarstufe/post-und-schule  (Lehrerheft Basispaket Grundschule) finden sich Informationen und Druckvorlagen rund um das Thema Briefe schreiben und Postwesen. Für Vorschulkinder eignen sich die Ausdrucke zum Selbermachen von Briefmarken, Adressbüchern und Briefumschlägen.
In den Materialien  für die Grundschule erfährt man warum die Post gelb ist, kann den Weg des Briefes verfolgen oder ein Schild für die Leerungszeiten des selbstgebastelten Briefkasten ausdrucken.

In einer solchen handlungsorientierten  Anschlusskommunikation erfahren Kinder Schrift als Teil der Kommunikation und erleben, dass auch noch heute das handschriftliche Briefeschreiben trotz aller  digitalen Nachrichtenübermittlung seinen ureigenen Reiz hat.

Marianne Dubuc: Briefträger Maus.
Weinheim: Beltz & Gelberg 2016, 25 Seiten | 12,95 | ab 4

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Streng geheim und gut bewahrt (März 2016)

„Wie war´s im Kindergarten?“ „Blöd.“ „Warum?“ „Alle haben ein Geheimnis. Alle! Nur ich nicht.“ Maya sitzt mit ihrer Mutter beim Abendessen und verhandelt, leicht missgestimmt, wie nun damit umzugehen sei. Leider geht der dabei gefasste Rettungsplan aber nicht
auf, denn im Kindergarten glaubt ihr keiner, dass auch sie jetzt ein Geheimnis hat. Eine Lügnerin sei sie, behaupten die anderen Kinder - weil sie sagt, dass sie über ihr Geheimnis leider nichts verlauten lassen kann, da es ja ein Geheimnis ist. So eine verzwickte Situation kann nur eine gute mütterliche Eingebung auflösen. Die zeigt sich in Form eines wunderschön verzierten, fest verschlossenen Holzkästchens, das am nächsten Morgen auf dem Frühstückstisch steht und das beste Geheimnis der Welt hütet.

Im Kindergarten bestaunen die anderen Kinder Mayas Kästchen und alle stellen sich vor, was wohl drin sein könnte. Oskar ist so neugierig, dass er versucht es aufzubrechen. Maya selbst wird auch immer neugieriger auf das unbekannte Geheimnis. Sie widersteht der Verlockung das Kästchen aufzuschließen, in dem sie einerseits die schönsten und wertvollsten Dinge vermutet, und andererseits befürchtet dass der Inhalt sie genau so gut enttäuschen könne. Steckt am Ende weder einer goldener Ring noch eine Fahrkarte in ein fremdes Land drin, sondern nur eine Nacktschnecke oder gar ein Popel? Geheimnisse zu haben ist wohl doch nicht so einfach. Weil Maya aber das Kästchen bis heute nicht geöffnet hat, hat sie als einziges aller Kinder ihr Geheimnis behalten, während die anderen ihre längst verloren, vergessen und verraten haben.

„Das geheimste Geheimnis der Welt“ erzählt literarisch überzeugend von den Herausforderungen des Großwerdens. Eine sprachstarke Geschichte über die für Kinder lebensnotwendigen Geheimnisse, Symbole und inneren Bilder. Ihre Tragfähigkeit erhält sie auch durch die Intuition und das Verständnis von Mayas Mutter, die ihr Kind darin bestärkt, dass man mit sechs Jahren schon mindestens ein Geheimnis haben sollte. Wie schön, dass sie für dieses geheimste Geheimnis der Welt auch das wunderbare Holzkästchen zur Hand hat.

Sabine Wiemers Bilder erzählen perspektivenreich, gestaltet mit Collagen und zauberhaften geheimnisvollen Mustern, über die Wichtigkeit von Geheimnissen im Kinderleben. Beim Aufwachsen dokumentieren sie einen Schritt der kindlichen Entwicklung, setzen sie doch voraus, im richtigen Moment etwas zu verschweigen zu können. Geheimnisse ermöglichen Kindern auch etwas Eigenes zu schaffen, sich von anderen abzugrenzen, Individualität und Besonderheit zu pflegen. Gegen Ende der Kita-Zeit entdecken Kinder oftmals das Wesen und die Funktion von Geheimnissen und experimentieren mehr oder weniger mit deren Gebrauch. Geheimnisse erlauben es Kindern, Symbol- und Sinnverständnis zu entwickeln. Sie entdecken, dass hinter der Oberfläche der Welt noch viel mehr steckt. Und das wiederum ist eine wichtige Voraussetzung, um Texte und Bilder verstehen zu können.

Eine Geschichte, die einerseits das Wesen geheimster Geheimnisse erschließt, andererseits unter Verschluss hält und Kindern damit reizvollen Spielraum zum Nachsinnen bietet. Gerne
machen sich Kinder ihre eigenen Gedanken zu dem bis heute im Kästchen ruhenden ungelüfteten Geheimnis der Welt.

Hubert Schirneck / Sabine Wiemers: Das geheimste Geheimnis der Welt.
München: Tulipan 2016, 36 Seiten | 14,95 | ab 4

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Ein Herz voller Gefühle (Feb 2016)

„Mein Herz ist wie ein leuchtender Stern,
ganz hell und klar.
Ich strahle übers ganze Gesicht
Und könnte die Welt umarmen,
wenn mein Herz glücklich ist.“
Im Zentrum dieses gefühlvollen Bilderbuchs zeigt sich ein herzförmiger Ausschnitt, der auf jeder Buchseite immer kleiner wird. Dieses fühlbare Herz ist ein sensibler Schatz, in dem ein breites Spektrum von Gefühlen zu Hause ist. Ein kleines Mädchen erzählt von den leisen und lauten, großen und kleinen Gefühlen, die es in seinem kleinen Herzen erspürt. Jedes Gefühl nimmt Gestalt an und so steht der riesige graue Elefant für Traurigkeit, ein Herz voll Glück verwandelt sich in einen leuchtenden Stern. Ein orangenes zackiges Zeichen zeigt, dass explosive Wut herrscht, der in den Himmel schwebende Luftballon symbolisiert die sorglose Leichtigkeit des Seins. Ein rotes Kreuz steht für verletztes Herz, im lila Zauberhut sitzt ein überraschtes, vor Freude ganz verrücktes Herz.
Die kleine Heldin dieses poetischen Buchs und die Symbolik, in der sich ihre Gefühle bildhaft wiederspiegeln, drücken in Worten und Bildern die Kraft der Emotionen aus. Gefühle in Worte zu fassen ist für Kinder oft schwierig, da ihr zum differenzierten Ausdruck notwendiger Wortschatz sich noch im Wachsen befindet. So ist diese seelenvoll ins Bilderbuch umgesetzte, grafisch wunderschön gestaltete Herzensangelegenheit eine Anregung, darüber zu sprechen, was einem auf dem Herzen liegt.

„Mein Herz ist wie ein wunderschöner Garten
Und dein Herz auch.
So viele Gefühle leben darin.
Gerade ist mein Herz zufrieden. Und deins?“
Ohne Gefühlserleben ist der Mensch nicht existenzfähig. Freude und Trauer, Angst und Wut, geben bewusstem Erleben erst eine Bedeutung. Sie haben einen zentralen Einfluss auf unsere Gedanken und unser Verhalten. So liegt es nahe, mit diesem Bilderbuch eigene und fremde Gefühlslagen zu erspüren, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und eigene Reaktionen zu überprüfen.
Die Frage, mit der dieses Bilderbuch endet, ist Türöffner zu einer dialogischen Erörterung möglicher Gefühlslagen der Kinder.
Die sprachliche Ebene „In meinem kleinen Herzen“, vermittelt Kindern, dass Worte eine poetische Aura haben und Texte bildsprachlich erzählen. Eine gute Ausgangslage, die ihnen ermöglicht, ihren Wortschatz im Bereich der emotionalen Intelligenz zu erweitern und differenzieren.

Bei zwei- bis sechsjährigen Kindern ist eine oft erstaunliche Sensibilität für Symbole zu beobachten. In diesem Alter sind Kinder bereits fähig symbolisch zu denken, d.h. sie interessieren sich für Zeichen und ihre Bedeutung so wie sie sich für Worte und ihre Bedeutung interessieren. Ein spielerischer Umgang mit Zeichen fördert, dass Kinder sich die Funktionen und Formen von Symbolen handelnd aneignen und erschließen.
Gefühle und Befindlichkeiten der Kinder lassen sich beispielsweise mit einem selbstgezeichneten Gefühlsbarometer ausdrücken und anzeigen: Zwei Kreise werden aufgezeichnet und ausgeschnitten. Die ausgeschnittenen Scheiben werden jeweils in vier Viertel eingeteilt.

Auf die erste Scheibe wird in jedes Viertel ein anderes Symbol aus dem Buch gezeichnet.
Stern = Freude/Glück (mir geht es gut)
Graue Wolke = Trauer (ich bin traurig)
Orangenes vielzackiges Explosionszeichen = Wut (ich bin wütend)
Monster mit Zähnen = Angst (ich habe Angst)
Aus der zweiten Scheibe wird ein Viertel herausgeschnitten. Dann wird sie in der Mitte mit einer Klammer auf der ersten Scheibe befestigt. So kann man die obere Scheibe drehen und es kommt immer ein anderes Symbol zum Vorschein.
Dieser Gefühlsbarometer kann nun dazu verwendet werden Grundgefühle anzuzeigen und mitzuteilen.

Jo Witek /Christine Roussey: In meinem kleinen Herzen
Frankfurt: Sauerländer 2016, 32 Seiten| € 16,99 | ab 4

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Zum Vorlesen: Poetisch erzählte Geschichten über das Miteinander (Jan 2016)

„Robin sitzt auf Opas Schoß. Zusammen mit seinem Schweinchen Schnuff, seinem großen Freund und Kuscheltier. Sie sitzen im Sessel neben dem Ofen. Opa liest vor. Die Geschichte vom Fischer Timpe Te. Robin hat sie schon hundertmal gehört. Er kennt sie fast auswendig. Trotzdem will er sie immer wieder hören.“
Robin, die Hauptfigur der Geschichten, ist fünf Jahre alt, aufgeweckt und liebenswert. Zusammen mit Papa und Mama erlebt er das aufregende Warten auf die Geburt seiner neuen Babyschwester Suse, erfährt, dass Opa an Gott glaubt, Papa dagegen eher nicht und fühlt sich von seinen ersten Liebesgefühlen ziemlich hin- und hergerissen. Zeitweise ist Robin aber auch Ritter Validon und Schnuff ist Ritter Bullerich, und als Ritter von früher erleben sie Abenteuer und pflegen ihre Weltsicht. Phantastischer Weise kann Schweinchen Schnuff aber auch im Weihnachtskrippenspiel Maria sein und Robin ein Hirte, der verzweifelt nach dem Stern Ausschau hält.

Die sechzig kurzen Geschichten, die aus Robins Leben erzählen sind nie belanglos sondern vermitteln das, was Kinder in diesem Alter beobachten und denken, fühlen und fragen. Robin möchte vieles wissen und hinterfragt gerne: ob Gott ihn hören kann, wie und wann seine kleine Schwester aus Mamas Bauch kommt oder ob Papa in Mama verliebt ist.
Mit viel Gespür trifft Sjoerd Kuyper in dem dreiteiligen Erzählband die Sprache junger Kinder und vermittelt mit erstaunlicher Leichtigkeit ihre Gefühls- und Gedankenwelt.
Dank Robins beharrlichem Wissensdurst erzählen die Geschichten über Alltagsfragen und Lebensfragen gleichermaßen tabufrei wie tiefgründig. Selten findet sich ein Vorlesebuch für junge Kinder, das sie so ernst nimmt, wenn sie die Welt verstehen wollen, und dabei den dafür notwendigen Eifer so verschmitzt und ernsthaft zugleich thematisiert. In poetischer Sprache erzählt der niederländische Autor über das wichtige Miteinander und die Unverzichtbarkeit dessen, dass Kinder angenommen sein wollen und Erwachsene brauchen, die Zeit und Energie für Gespräche, Dialog und Gedankenaustausch haben.

Und weil Kinder sich Sprache erobern müssen, findet sich dieses Thema in vielen Geschichten wieder. Robin verhandelt mit Opa die englische und chinesische Sprache oder denkt über die Verwendung von Wörtern nach. Altersgemäß zeigt er sich interessiert an Sprachspielereien, versucht er sich an Witzen und Aprilscherzen. Genau wie im echten Kinderleben aber braucht Robin Märchen, Lyrik und Geschichten.

Kindern Geschichten vorzulesen macht besonders viel Freude, wenn sie dank Sjoerd Kuyper so wunderschön poetisch erzählen, wie Robin mit Opa abends noch ein kleines bisschen in eine dunkle Winternacht hinausblickt:„ Sie schauen zu dem Schneemann und zu den kahlen Bäumen, zu dem Stempel-Robin und seinem Stempel-Opa im Schnee, zu dem Mond und zu den Sternen am hohen Nachthimmel und zu dem einen großen, hellen Stern, der mit seinem prachtvollen Licht alles andere überstrahlt.“

Der mit sensiblen und farbfrohen Bildern ausgestatte Erzählband ist eine Neuausgabe der drei bereits in den 1990er Jahren verfassten Bände „Robin bekommt eine Schwester“, „Robin und Gott“ und „Robin ist verliebt“. Für diese Geschichten von Robin und Schnuff  erhielt Sjoerd Kuyper 1996 den holländischen Kinder- und Jugendbuchpreis „Der goldene Griffel“. In den Niederlanden gelten sie als moderne Klassiker für Kinder.

Vorlesen von Geschichten ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Um eine gehörte Geschichte, eine erlebte Situation oder auch eine Bildergeschichte wiedergeben zu können, brauchen Kinder eine kognitive Struktur der Abfolge und einen Überblick über den Zusammenhang innerhalb der Geschichte. Sprachlich müssen sie die Fähigkeit haben, die einzelnen Elemente einer Geschichte so zusammenzufügen, dass derjenige, der zuhört, mit seinen Gedanken auch folgen kann.

Kinder lernen durch Vorlesen und Erzählen nicht nur unterschiedliche Textsorten kennen, sondern entwickeln auch ein Gefühl für die Struktur einer Geschichte. Beim scheinbar einfachen Zuhören lernen Kinder somit Möglichkeiten und Muster kennen, die sie beim eigenen Sprechen, und später beim Schreiben, wieder anwenden können.  Somit bietet das Vorlesen von Geschichten den zuhörenden Kindern auch die Lernerfahrung, wie sie etwas, das sie selbst erlebt oder ausgedacht haben, erzählen können.

Die Geschichten von „Robin und Schnuff“ variieren zwischen drei und vier Seiten. Diese prägnante Kürze ermöglicht den meisten Kindern konzentriert zuzuhören. Dass sich Kinder in ihren Gefühlen und Gedanken wiedergespiegelt sehen, motiviert sie für die anschließende Gesprächssituation und zum  Austausch von Gedanken und individuellen Sichtweisen.

Sjoerd Kuyper/Marije Tolman: Robin und Schnuff. Geschichten zum Vorlesen.
Stuttgart: Gabriel 2015, 288 Seiten| € 16,99 | ab 5

Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.

Kontakt

Daniela Bischler
Trägerübergreifende Fachberaterin Sprachliche Bildung

Amt für Kinder, Jugend und Familie
Abteilung 4
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