Bürgerentscheid, Stadtentwicklung und die Lösung der Wohnungsfrage

Interview mit Baubürgermeister Martin Haag

Ohne Dietenbach werden Nachverdichtung und
soziale Spaltung in Freiburg zunehmen

Am 24. Februar ist die Freiburger Bürgerschaft aufgerufen, im Rahmen eines Bürgerentscheids eine weitreichende Entscheidung zu fällen. Soll die Dietenbachniederung unbebaut bleiben oder soll dort ein Stadtteil für bis zu 15 000 Menschen entstehen? Das Baudezernat unter Martin Haag hat in den vergangenen sechs Jahren die Vorbereitung für das geplante Baugebiet getroffen. Bürgermeister Haag stand für ein Gespräch mit dem Amtsblatt zur Verfügung.

Bürgermeister Martin Haag leitet seit acht Jahren das städtische Baudezernat. (Foto: A. J. Schmidt)
Bürgermeister Martin Haag leitet seit acht Jahren das städtische Baudezernat. (Fotos: A. J. Schmidt)

Amtsblatt: Im Oktober letzten Jahres reichte das Bündnis „Rettet Dietenbach“ mehr als 12000 Unterschriften ein. Damit war klar, dass ein Bürgerentscheid über die Neubaupläne stattfinden wird. Was ging Ihnen damals durch den Kopf?

Bürgermeister Martin Haag: Das kam nicht sehr überraschend, sondern hat sich schon abgezeichnet. Ich hatte zwar gehofft, dass die städtischen Informationen soweit ausreichen, dass die Bürgerschaft von der Notwendigkeit des Stadtteils Dietenbach überzeugt ist und ein Bürgerentscheid nicht stattfindet. Jetzt kommt es anders.

In der Green City Freiburg bleibt die Bebauung eines Quadratkilometers Grünland nicht ohne Konflikte. Wann war für Sie klar, dass es ohne einen neuen Stadtteil nicht gehen wird?

Da gab es kein einzelnes Aha- Erlebnis. Ich habe vor acht Jahren als Bürgermeister angefangen, und es zeigte sich nach und nach, dass der 2005 beschlossene Flächennutzungsplan erstens auf Prognosen beruhte, die sich später als falsch erwiesen haben. Denn die Einwohnerzahlen stagnierten nicht wie vorhergesagt, sondern stiegen stetig an. Wir waren nicht die einzigen, die damit konfrontiert wurden. Auch die bundes- und landesweite Wohnungsbauförderung ging von den gleichen Annahmen aus.

Dietenbach wird nicht privatwirtschaftlichen Interessen ausgeliefert. Denn weil wir Eigentümer der meisten Flächen sind, haben wir die Chance, die Grundstücke selber zu vermarkten und zu entscheiden, wer zum Zuge kommt.

Zum zweiten beinhaltete der Flächennutzungsplan viele Flächen, die schwerer umzusetzen waren als gedacht. Denken Sie nur an das sehr interessante Baugebiet Zinklern in Lehen mit geplant über 500 Wohnungen. Weil ein einzelner Grundstückseigentümer im Zentrum des Gebiets jetzt abgesprungen ist, müssen wieder umplanen – und das dauert. Nach und nach kam bei mir das Gefühl auf, dass wir die Probleme so nicht in den Griff bekommen. Das verdichtete sich dann in den Jahren 2012 und 2013 zu der Einsicht, dass wir eine andere Siedlungspolitik brauchen. Dies teilte auch der Gemeinderat mit übergroßer Mehrheit. Bevor wir auf Dietenbach kamen, haben wir alle erdenklichen Alternativen auf unserer Gemarkung geprüft und auch von Externen untersuchen lassen. Fazit: Dietenbach ist der am besten geeignete Standort für ein neues Wohnquartier.

Und woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die heutigen Prognosen besser sind?

Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Attraktivität der Stadt nachlässt. Schauen Sie nur aus dem Fenster! (Vom Bürgermeisterbüro im neuen Rathaus reicht der Blick über die Stadt bis zu den verschneiten Schwarzwaldbergen.) Wir haben eine tolle Stadt. Außerdem haben wir interessante Arbeitgeber, eine exzellente Universität sowie eine expandierende Uniklinik. Und das sind nur einige Beispiele; deshalb bleibt die Attraktivität Freiburgs ungebrochen.

Manche argumentieren, dass ein neuer Stadtteil den Zuzug Auswärtiger befördert – und die Stadt an ihrem Wachstum quasi selber schuld ist?

Das wird immer behauptet, ist aber nur zum Teil richtig, denn die Stadt wächst bereits stark aus sich selbst heraus, was die steigende Geburtenrate zeigt. Aber natürlich ziehen Leute aus Freiburg weg und andere ziehen her. Wenn wir keinen neuen Wohnraum schaffen, entscheidet am Ende nur der Geldbeutel darüber, wer kommen kann und wer nicht. Wenn sich nur noch Besserverdienende die Stadt leisten können, werden alle darunter leiden, weil uns Arbeitskräfte im niedrigen und mittleren Lohnsegment, also etwa Pflegekräfte, Busfahrer, Polizisten oder Feuerwehrleute, verlorengehen. Das wird Auswirkungen auf unser soziales Gefüge und den Zusammenhalt in der Stadt haben. Aus den Erfahrungen mit dem Rieselfeld wissen wir auch, dass über 70 Prozent der neuen Bewohner aus Freiburg kamen.

Der Wohnungsmarkt ist überwiegend privat organisiert und will vorrangig Erlöse erwirtschaften. Lässt sich der Wohnraummangel mit Mitteln der Marktwirtschaft beheben?

Dietenbach wird nicht privatwirtschaftlichen Interessen ausgeliefert, das ist eine Unterstellung. Denn weil die Stadt Eigentümerin einer sehr großen Fläche ist, haben wir die Chance, die Grundstücke selber zu vermarkten und können entscheiden, wer zum Zuge kommt. Das werden dann auch Baugenossenschaften, das Studierendenwerk, die Uniklinik, die Freiburger Stadtbau oder das Mietshäusersyndikat sein. Die können teils zu Mietkosten von 7 Euro je Quadratmeter bauen. Hinzu kommt, dass die anderen Grundstücke bei der Sparkasse liegen, und auch da haben wir Einfluss darauf, was und wie gebaut wird.

Bedarf besteht in erster Linie an preisgünstigen Wohnungen. Wie können solche Wohnungen angesichts hoher Grundstückskosten, hoher Baukosten und hoher Baustandards überhaupt realisiert werden?

Preistreiberei entsteht durch steigende Baukosten – vor allem aber durch steigende Grundstückskosten. Wir werden die Flächen zu Quadratmeterpreisen von 680 bis 820 Euro vermarkten, das ist deutlich unter dem Marktpreis. Damit gelingt es, einen hohen Anteil geförderter Wohnungen zu verwirklichen, wie es zuletzt in den Gutleutmatten oder im Gebiet Kronenmühlebach in Haslach geschehen ist. Dort werden es sogar 100 Prozent geförderte Wohnungen sein. So können wir den sozialen Frieden in der Stadt bewahren.

Das politische Ziel sind 50 Prozent geförderte Wohnungen. Ist das zu schaffen?

Ich halte die Zielsetzung von 50 Prozent für richtig. Vor allem auch deshalb, weil dies eine gute soziale Mischung nach sich zieht. Die Förderbedingungen für den Wohnungsbau sind inzwischen so, dass auch die breite Mittelschicht davon profitiert. Dietenbach bietet uns viele Möglichkeiten, weil wir bei den Grundstücken den Daumen drauf haben. Aber man muss berücksichtigen, dass die Bauzeit des Stadtteils ein Vierteljahrhundert dauern wird. Und wer kann heute schon sagen, wie die Förderbedingung in 25 Jahren sein werden?

Kritiker sagen, Wohnungen ließen sich schneller, billiger und umweltverträglicher im Bestand verwirklichen – durch Nachverdichtung, Aufstockungen und Dachausbauten. Was entgegnen sie?
Das ist im Grundsatz ja nicht falsch. Und deshalb haben wir in den vergangenen Jahren auch viele derartige Potenziale genutzt. Im Schnitt haben wir jährlich allerdings nur etwa 150 Wohnungen im Bestand ermöglicht. Und das aus einem einfachen Grund: Wir können den meist privaten Eigentümern eine Dachaufstockung nicht vorschreiben. Einer Aufstockung stehen außerdem oft baurechtliche oder statische Probleme entgegen. Viele 50er- Jahre-Bauten können zum Beispiel kein weiteres Geschoss tragen. Und billiger ist es auch nicht. Die letzte Gebäudeaufstockung der Freiburger Stadtbau in der Belchenstraße war so teuer wie ein Neubau – und dennoch nicht barrierefrei. Hoffnung auf viele Wohnungen lassen sich durch Nachverdichtung im Siedlungsgebiet nicht erfüllen. Und eines ist auch klar: Bei Nachverdichtung und Dachausbau entstehen keine geförderten Mietwohnungen.

Dietenbach ist intensiv genutztes Ackerland mit nur wenigen wertvollen Biotopen. Dennoch ginge mit dem Stadtteil viel Grünland verloren. Wie können diese Verluste ausgeglichen werden?

Die umfangreichen Untersuchungen, die wir vor der Dietenbachentscheidung durchgeführt haben, zeigen, dass diese Fläche gegenüber allen anderen die am wenigsten wertvolle ist. Die Beeinträchtigungen von Boden, Biotopen und Tierarten werden wir trotzdem so weit wie möglich ausgleichen. Zum Beispiel soll der Dietenbach eine neue, 30 bis 40 Meter breite Aue erhalten. Und die Flächen nordwestlich der Straße von Lehen zum Mundenhof sind allein für den Naturschutz reserviert. Die Waldstreifen am Rande des Gebiets bleiben zum größten Teil erhalten. Klar ist aber auch, dass ich das Wohnraumproblem lieber ohne Flächenverbrauch lösen würde. Leider sehe ich dafür keine Chance.

Die Dietenbachniederung ist ein Überschwemmungsgebiet und muss aufgeschüttet werden. Außerdem ist ein Regenrückhaltebecken in Horben geplant. Beides verursacht nach Meinung der Gegner hohe Umweltbelastungen. Stimmt das?

Auch ohne Dietenbach würde das Becken in gleicher Größe und gleichem Fassungsvermögen gebaut. Das Regenrückhaltebecken ist für uns nämlich gesetzlich zwingend, um den Hochwasserschutz in den Stadtteilen Wiehre, Haslach und Weingarten zu garantieren. Unstrittig ist aber, dass Dietenbach wie auch alle anderen Unterlieger, von Umkirch bis nach Rotterdam, davon profitieren werden. Die Entscheidung für Dietenbach verursacht keinen Cent Mehrkosten bei dem Rückhaltebecken.

Zur Aufschüttung: Weil regional anfallender Bauaushub in Dietenbach verwendet werden kann, unterbleiben viele Transportwege – deshalb ist diese Lösung sogar die umweltfreundlichere. Gegenwärtig fahren die Lkw mit Bauaushub bis in den Bodenseeraum. Durch Dietenbach werden die Wege kürzer und viele Fahrten vermieden. Auch das Verkehrsaufkommen wird sich nicht nachteilig auswirken, weil es sich über einen Zeitraum von 20 Jahren verteilt.

Die Stadt hat eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme eingeleitet, die auch Enteignungen ermöglicht. Der Gesetzgeber begründet dies mit der Sozialbindung des Eigentums, wenn die Stadt sich nicht anders zu helfen weiß. Dennoch birgt ein solcher Schritt Prozessrisiken. Könnte sich Dietenbach hierdurch verzögern?

Wir haben schon 121 von 130 Hektar Fläche, und ich bin zuversichtlich, dass wir uns auch mit den restlichen Eigentümern einigen werden. Für die landwirtschaftlichen Flächen haben wir bereits jetzt schon fast zur Hälfte Ersatz beschafft, und wir haben noch viel Zeit, die Restflächen zu ersetzen. Da wir nachweisen können, dass es keine Alternative zu Dietenbach gibt, sind wir auf juristische Auseinandersetzungen gut vorbereitet, und ich sehe kein Risiko für Verzögerungen.

Was passiert, wenn der Bürgerentscheid Erfolg hat und der neue Stadtteil nicht gebaut werden kann? Gibt es einen Plan B?

Wir tun alles, um die Bürgerschaft zu überzeugen. Wenn es einen Plan B gäbe, hätten wir uns nicht so auf Dietenbach konzentriert, sondern einfachere Flächen entwickelt. Wenn der neue Stadtteil durch den Bürgerentscheid abgelehnt wird, dann wird es weitere Preissteigerungen geben und es wird zur weiteren sozialen Spaltung kommen. Normalverdienende werden zunehmend ins Umland ausweichen – was den Pendlerverkehr verstärken wird. Auch der Fachkräftemangel in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Kindertagessstätten wird zunehmen.

Wir werden uns aber nicht in den Schmollwinkel zurückziehen, sondern es werden dann andere Flächen auf den Prüfstand kommen. Damit wird der Nachverdichtungsdruck in den Quartieren enorm steigen – was nicht nur auf Zustimmung stoßen wird. Denn wir werden Freilächen zur Bebauung heranziehen müssen und die schon ausgelastete Infrastruktur aus Straßen und Kitas wird weiter strapaziert.

Vor allem wird der Wohnungsbau dann auch im Umland stattfinden – mit deutlich höherem Flächenverbrauch. Das Baurecht billigt der Großstadt zwei- bis viermal höhere Baudichten zu als den ländlichen Gemeinden. Um die gleiche Anzahl von Wohnungen zu realisieren, ist dort zwei- bis viermal so viel Fläche nötig – und auch das werden landwirtschaftliche Flächen sein.

Letzte Frage: Wenn die Planungen doch weitergehen können, was sind die nächsten Schritte?

Wir werden noch in diesem Jahr mit der Bürgerschaft einen breiten Dialog über Wohnungsmix, Zielgruppen und Bauherren führen. Dann werden wir den städtebaulichen Entwurf weiter überarbeiten und mit einem Bebauungsplan konkretisieren. Läuft alles glatt, können in fünf Jahren die ersten Wohnunggebäude errichtet werden.

Herr Haag, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.